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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 [= ASYLMAGAZIN 12/2009, S. 26 f.] - asyl.net: M16130
https://www.asyl.net/rsdb/M16130
Leitsatz:

Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie erfüllt, kann sich auch aus einer allgemeinen Gefahr im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet.

Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Ausländers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehrt.

(Auszug der Amtlichen Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungsschutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Qualifikationsrichtlinie, allgemeine Gefahren, erhebliche individuelle Gefahr, Irak, subsidiärer Schutz, EuGH, Elgafaji
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

1. Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die zugleich die entsprechenden Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) erfüllt, kann sich auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet.

a) Eine solche Verdichtung bzw. Individualisierung kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben.

b) Sie kann unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (ebenso EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C-465/07 - Elgafaji).

2. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Ausländers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehrt.

(Amtliche Leitsätze)

[...]

Die nach der Berufungsentscheidung eingetretene Rechtsänderung hat zur Folge, dass sich im Asylverfahren von Gesetzes wegen der Streitgegenstand bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geändert hat und im vorliegenden Verfahren hinsichtlich der vom Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak geltend gemachten Gefahren die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen eigenständigen, vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren Streitgegenstandsteil bilden. Dementsprechend erstrebt der Kläger sachdienlicherweise in erster Linie die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (gemäß den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung oder den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EG Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EG vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 - sog. Qualifikationsrichtlinie). Für den Fall, dass seine Klage insoweit keinen Erfolg hat, begehrt er hilfsweise die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Irak. Diese Abstufung berücksichtigt die mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes eingetretene Änderung des Streitgegenstands bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG und entspricht nunmehr der typischen Interessenlage eines Klägers, der - wie im vorliegenden Verfahren - nach rechtskräftigem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz in Bezug auf sein Heimatland begehrt (vgl. hierzu Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - a.a.O. Rn. 11). [...]

Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - (a.a.O.) ausgeführt, dass sich auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgeht, individuell so verdichten kann, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt und damit die Voraussetzungen dieser Vorschrift und des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt (Rn. 34). Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine solche Verdichtung angenommen werden kann, hat der Senat seinerzeit ebenso wie die Auslegung des Begriffs der willkürlichen Gewalt als mögliche gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage bezeichnet und auf das beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) anhängige Vorlageverfahren C-465/07 des Niederländischen Raad van State verwiesen (Rn. 34). Inzwischen hat der Gerichtshof diese Fragen mit Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C-465/07 - (Elgafaji) grundsätzlich geklärt und sie im Wesentlichen ebenso beurteilt wie der Senat in dem erwähnten Urteil vom 24. Juni 2008. [...]

Diese Ausführungen entsprechen weitgehend dem, was der Senat - mit anderen Worten - in dem erwähnten Urteil vom 24. Juni 2008 ausgeführt hat. Wenn der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verlangt, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie ausgesetzt zu sein, entspricht dies der Sache nach der vom Senat für erforderlich gehaltenen individuellen Verdichtung der allgemeinen Gefahr. Auch nach Auffassung des Gerichtshofs kann sich eine derartige Individualisierung der allgemeinen Gefahr aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Eine solche Individualisierung kann aber unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. [...]

Das Verfahren ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. In dem erneuten Berufungsverfahren wird das Berufungsgericht die fehlenden Feststellungen zum Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts und zu den weiteren Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einschließlich der Möglichkeit, internen Schutz zu erlangen, nachzuholen haben. Hierbei sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen:

Das Berufungsgericht wird zu prüfen haben, ob für den Kläger im Irak oder in Teilen des Irak eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts besteht. Da nach den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts beim Kläger keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, kann eine erhebliche individuelle Gefahr in diesem Sinne nur dann angenommen werden, wenn die im Irak drohenden allgemeinen Gefahren eine derart hohe Dichte bzw. einen derart hohen Grad aufweisen, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt muss sich dabei nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - a.a.O. Rn. 25), wofür hier nach den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts im Übrigen auch wenig spricht. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird. Auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (a.a.O. Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. Art. 2 Buchst. e der Richtlinie).

Ergibt sich, dass in der für ihn maßgeblichen Region eine individuelle Bedrohung des Klägers wegen eines außergewöhnlich hohen Niveaus allgemeiner Gefahren im Rahmen eines bewaffneten Konflikts anzunehmen ist, ist weiter zu prüfen, ob der Kläger in anderen Teilen des Irak, in denen derartige Gefahren nicht bestehen, internen Schutz gemäß Art. 8 der Richtlinie finden kann (vgl. dazu Senatsurteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 Rn. 30 ff. und 35; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009, a.a.O. Rn. 40). [...]