VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 08.10.2009 - 2 A 232/07 - asyl.net: M16147
https://www.asyl.net/rsdb/M16147
Leitsatz:

Anspruch auf Streichung einer Wohnsitzauflage - der durch Art. 6 Abs. 1 GG gebotene Schutz der Familie und das in Art. 2 Abs. 2 GG verankerte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verlangen, dass den berechtigten Wünschen der Familienmitglieder nach familiärem Beistand auch unter erwachsenen Familienangehörigen durch den gewünschten Umzug nach Bremen Rechnung getragen wird.

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, Umzug, Pflege, Schutz von Ehe und Familie, Beistand
Normen: AufenthG § 12 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 4, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Indes ist die verfügte Wohnsitzauflage ermessensfehlerhaft und deshalb aufzuheben.

Der Beklagte hat sich bei seiner ablehnenden Entscheidung wegen der Regelung in Abschnitt 12.2.3.5 der Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (VV-AufenthG) an die Versagung der Zustimmung der Beigeladenen gebunden gefühlt. Die Versagung der Zustimmung und mithin auch der Bescheid des Beklagten gewichten indes die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter der Kläger nicht ausreichend.

Der durch Art. 6 Abs. 1 GG gebotene Schutz der Familie und das in Art. 2 Abs. 2 GG verankerte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verlangen, dass den berechtigten Wünschen der Familienmitglieder nach familiärem Beistand auch unter erwachsenen Familienangehörigen durch den gewünschten Umzug nach Bremen Rechnung getragen wird (so auch Tz. 12.2.3.4 der VV-AufenthG).

Derzeit tragen die Klägerin und ihre jüngere Tochter die Last der Kontaktpflege zum Kläger, der aufgrund seiner Erkrankung heimpflegebedürftig ist. Diese Last würde sich bei einem Umzug nach Bremen zur älteren Tochter und deren Familie auf mehrere Schultern verteilen. Vor allem aber gebietet die Gesundheit der Klägerin deren Umzug nach Bremen und damit auch denjenigen ihres Ehemannes. Denn ausweislich der ärztlichen Atteste des Dr. med. ... ist die Klägerin infolge der derzeitigen Pflegesituation ihres Mannes überfordert und zeigt psychosomatische Störungen. Sie ist derzeit weitgehend auf sich allein gestellt. Der Hinweis der Beigeladenen auf die in Northeim lebende Tochter, die Betreuerin des Klägers, verfängt aus zweierlei Gründen nicht.

Zum einen ist sie tagsüber, anders als ihre in Bremen lebende Schwester, erwerbstätig und kann ihrer Mutter während der Arbeitszeit nicht zur Seite stehen. Da andere soziale Kontakte ersichtlich nicht bestehen, ist die Klägerin daher schon derzeit den überwiegenden Teil des Tages sowohl bei der Betreuung des Klägers als auch bei allen Dingen des täglichen Lebens auf sich allein gestellt. Eine Belastung, der sie ausweislich der ärztlichen Atteste zunehmend nicht mehr gewachsen ist. Diesen Eindruck konnte der Einzelrichter auch in der informatorischen Anhörung der Klägerin gewinnen. Sie machte einen sehr schüchternen, in sich gekehrten, fast schon depressiven Eindruck. Ihre Aussage, es müsse ja mit ihrem Mann irgendwie weiter gehen, erschien dem Einzelrichter eher verzweifelt als mutig in die Zukunft geblickt. Die jüngere Tochter der Kläger tut zwar in der Betreuung ihrer Eltern das ihr Mögliche, ihre Möglichkeiten sind indes begrenzt. Hierbei berücksichtigt das Gericht nicht nur ihre derzeitige Arbeitsbelastung, sondern auch ihre in der mündlichen Verhandlung vorgetragene weitere Lebensplanung. Sie hat hierzu mit Bestimmtheit bekundet, in absehbarer Zeit zu ihrem in Großbritannien lebenden Verlobten ziehen und ihn heiraten zu wollen, um selbst eine Familie zu gründen. Der Einzelrichter hat in der informatorischen Befragung der Tochter den Eindruck gewonnen, dass sie von diesen Planungen derzeit nur deshalb Abstand nimmt, weil sie sich ihren Eltern gegenüber sittlich verpflichtet fühlt und sie in der jetzigen Situation nicht allein lassen will. Die Kläger dürfen indes nicht auf die Betreuung durch ein Familienmitglied verwiesen werden, wenn dieses Familienmitglied aus verfassungsrechtlich schützenswerten Motiven, die Betreuung nicht weiter durchführen kann und will. Wäre die Tochter nicht mehr in Northeim, wären die Kläger völlig isoliert. Spätestens dann wäre wohl die Beigeladene auch von sich aus bereit, dem Umzug zuzustimmen. Hierauf kann im Interesse der Beteiligten jedoch nicht gewartet werden. Im Ergebnis folgt die Kammer daher der ärztlichen Einschätzung, dass eine Stabilisierung der gesundheitlichen, insbesondere psychischen Situation der Klägerin auf Dauer nur in dem in Bremen für sie bestehenden sozialen Umfeld zu erreichen sein wird.

Gemessen an diesen verfassungsrechtlich erheblichen Gründen, die für einen Umzug der Kläger nach Bremen sprechen, haben die von der Beigeladenen in den Vordergrund gerückten fiskalischen und ausländerpolitischen Interessen zurückzustehen. Die fiskalischen Interessen sind, was die Gesamtbelastung der öffentlichen Haushalte betrifft, nicht einmal stichhaltig. Die Lebenshaltungskosten des Klägers werden auch nach einem Umzug nach Bremen nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen vom Beklagten getragen. Die Aufwendungen für die Klägerin werden sich nach einem Umzug nach Bremen gegenüber jetzt verringern. Denn in Bremen werden nach dem insoweit glaubwürdigen Vortrag der Kläger Unterkunftskosten für die Klägerin nicht entstehen, weil sie bei der Familie ihrer Tochter mietfrei leben wird. Die ordnungspolitischen Erwägungen der Beigeladenen sind nicht in der Lage, sich gegen Rechtsgüter der Kläger von Verfassungsrang durchzusetzen. [...]