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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 [= ASYLMAGAZIN 12/2009, S. 32 f.] - asyl.net: M16157
https://www.asyl.net/rsdb/M16157
Leitsatz:

1. Die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzt, kann wegen drohender Gefahr erneuter schwerer Wirtschaftsstraftaten gerechtfertigt sein.

2. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 steht der Ausgestaltung der Ausweisung als behördlicher Ermessensentscheidung im nationalen Recht nicht entgegen.

3. Ob die Wirkungen einer Ausweisung schon zum Zeitpunkt der Ausweisung oder erst später zu befristen sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Sie hängt unter anderem vom Ausmaß der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr sowie den schutzwürdigen Belangen des Betroffenen und seiner Angehörigen ab.

4. Die Ausweisung eines Ausländers, der die Staatsangehörigkeit seines Ursprungslands behalten hat, verletzt nicht Art. 12 Abs. 4 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte - IPBPR -.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, Ausweisung, Ausweisungsschutz, Befristung, eigenes Land, Ermessensentscheidung, Recht auf Privatleben, Sperrwirkung, türkische Staatsangehörige, Türkei, Übermaßverbot, Verhältnismäßigkeit, Verwurzelung, Wiederholungsgefahr, Wiederkehr, ARB 1/80, RL 2004/38/EG, RL 64/221/EWG
Normen: ARB 1/80; AufenthG § 7 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3; AufenthG § 37 Abs. 1; AufenthG § 37 Abs. 2; AufenthG § 55; AufenthG § 56 Abs. 1; EMRK Art. 8, GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 6, GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; EG Art. 234 Abs. 3; IPBPR Art. 12 Abs. 4; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3; RL 2004/38/EG Art. 40; RL 64/221/EWG Art. 8, RL 64/221/EWG Art. 9; VwGO § 114 Satz 1
Auszüge:

[...]

Der Betrug zum Nachteil der geschädigten Anleger, den das Landgericht als besonders schweren Fall eingestuft hat, bildet einen Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht. Das im Strafurteil vom 5. Mai 2003 geahndete Verhalten des Klägers begründet eine - über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung hinausgehende - tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dieser spezifische Rechtsgüterschutz (vgl. Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 304 f.>) erfasst auch das Eigentum und das Vermögen, wenn von dem Betreffenden Wirtschaftsstraftaten drohen, die - wie hier - zu beträchtlichen Schäden für eine Vielzahl von Personen führen können. In dem vorliegenden Fall kommt hinzu, dass das betrügerische Verhalten des Klägers bis hin zur wirtschaftlichen Existenzvernichtung einzelner Geschädigter geführt hat, die ihr gesamtes Vermögen verloren haben. [...]

Die vom Kläger unter Berufung auf Renner (ZAR 2005, 295 298>) vertretene Auffassung, der Aufenthalt von türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, könne nur im Wege einer Feststellungs- und nicht einer Ermessensentscheidung beendet werden, teilt der Senat nicht. Nach bisherigem Verständnis wird durch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 die behördliche Entscheidung über die Aufenthaltsbeendigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im nationalen Recht nicht als feststellender Verwaltungsakt vorgezeichnet. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ergibt sich, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zum einen Anforderungen an die Tatbestandsvoraussetzungen der Aufenthaltsbeendigung in Form der unter b) genannten Schwelle stellt. Demzufolge muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die aus dem persönlichen Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum anderen muss die Ausweisung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 - Rs. C-325/05 - Derin - Slg. 2007, I-6495 Rn. 74 mit Verweis auf Urteil vom 26. November 2002 - Rs. C-100/01 - Olazabal - Slg. 2002, I-10981 Rn. 43 f.). Des Weiteren gelten die Verfahrensgarantien des Art. 8 und Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG, die eine erschöpfende Prüfung aller tatsächlichen Umstände sowie der Zweckmäßigkeit der Maßnahme durch eine andere behördliche Stelle sichern (EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03 - Dörr und Ünal - Slg. 2005, I-4759 Rn. 55 und 65 ff.). Diese gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben stehen der Ausgestaltung der Ausweisung von nach dem ARB 1/80 privilegierten türkischen Staatsangehörigen als behördlicher Ermessensentscheidung nicht entgegen, zumal das deutsche Recht nur in diesem Entscheidungsmodus Raum für die Berücksichtigung von Zweckmäßigkeitserwägungen bietet. Dabei unterliegt die Ausweisung hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle. [...]

Wegen der Wiederholungsgefahr und der damit vom Kläger ausgehenden, auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts noch nicht kalkulierbaren Risiken brauchten die Wirkungen der spezialpräventiv motivierten Ausweisung im vorliegenden Fall nicht bereits mit Erlass befristet zu werden. Vielmehr ist der Kläger angesichts der negativen Prognose trotz seiner persönlichen Bindungen an das Bundesgebiet auf das Befristungsverfahren § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu verweisen. Der in dieser Vorschrift niedergelegte Regelanspruch auf nachträgliche Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach Wegfall der gefahrbegründenden Umstände erweist sich für ihn jedenfalls im Hinblick auf die Ermöglichung von Besuchsaufenthalten im Bundesgebiet auch als praktisch wirksam. [...]

Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG, der gemäß Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie bis zum 30. April 2006 umzusetzen war, ist schon aus Gründen intertemporaler Rechtsgeltung auf die hier streitgegenständliche, im Juli 2004 verfügte und im September 2005 mit der Klage angegriffene Ausweisung nicht anwendbar (vgl. Urteil vom 3. Dezember 2008 - BVerwG 1 C 35.07 - NVwZ 2009, 326 Rn. 10 f. und EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - Rs. C-349/06 - Polat - a.a.O. Rn. 26 f.). Die Ausweisung des Klägers ist daher unter keinen Umständen an den Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie zu messen. Deshalb stellt sich im vorliegenden Verfahren auch nicht die von den Beteiligten sowie in Rechtsprechung und Literatur kontrovers beurteilte gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage, ob und inwieweit Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsrechtlich aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige Anwendung findet (vgl. dazu das Vorabentscheidungsersuchen des Senats, Beschluss vom 25. August 2009 - BVerwG 1 C 25.08 - m.w.N.).

Die Ausweisung verletzt auch nicht Art. 12 Abs. 4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl II 1973 S. 1534 und 1976, S. 1068) - IPBPR. Danach darf niemandem willkürlich das Recht entzogen werden, in sein eigenes Land einzureisen. Der Kläger ist der Ansicht, Deutschland sei für ihn wegen seiner langen Aufenthaltszeit "sein eigenes Land".

Der Revision ist einzuräumen, dass der Ausschuss für Menschenrechte, der u.a. im Individualbeschwerdeverfahren nach dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte angerufen werden kann, in neuerer Zeit davon ausgeht, dass sich nicht nur Staatsangehörige des jeweiligen Landes auf Art. 12 Abs. 4 IPBPR berufen können (zur Entwicklung vgl. M. Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights - CCPR Commentary, 2nd edition, 2005, Art. 12 CCPR Rn. 52 ff.). Nach Auffassung des Ausschusses erfasst der Schutzbereich der Vorschrift auch Personen, die wegen ihrer speziellen Bindungen zu einem vorgegebenen Land dort nicht als bloße Fremde gelten könnten. Als Beispiel wurde auf Staatenlose abgestellt, denen ihre Staatsangehörigkeit auf völkerrechtswidrige Weise entzogen worden ist oder deren Staat in einen anderen Staat einverleibt wurde, welcher ihnen die Staatsangehörigkeit verweigert. Darüber hinaus hat der Ausschuss staatenlose Personen in den Blick genommen, denen willkürlich das Recht vorenthalten wird, die Staatsangehörigkeit des Landes ihres Wohnsitzes zu erwerben. Behält jemand allerdings die Staatsangehörigkeit seines Ursprungslandes und erwirbt nicht die des Wohnsitzlandes, obwohl ihm dies nicht willkürlich verwehrt wird, wird das Land der Einwanderung nicht sein eigenes Land i.S.d. Art. 12 Abs. 4 IPBPR. Dabei werden Einbürgerungshindernisse aufgrund strafgerichtlicher Verurteilungen vom Ausschuss nicht als unvernünftige Schranken angesehen (Auffassung vom 1. November 1996 - Case Nr. 538/1993 - Stewart v. Canada - U.N. Doc. CCPR/C/58/D/538/1993 (1996) Nr. 12.2 bis 12.9, zit. nach: humanrights.law.monash.edu.au/undocs 538-1993.html; wiederholt in der Auffassung vom 3. April 1997 - Case Nr. 558/1993 - Canepa v. Canada - U.N. Doc. CCPR/C/59/D/558/1993 (1997) Nr. 11.3, zit. nach: humanrights.law.monash.edu.au/undocs 558-1993.html). Demzufolge kann sich der Kläger schon wegen seiner fortbestehenden türkischen Staatsangehörigkeit nicht auf Art. 12 Abs. 4 IPBPR berufen. Unabhängig davon könnte die Ausweisung im vorliegenden Fall nicht als willkürlicher Entzug des Einreiserechts angesehen werden. [...]