OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 02.06.2009 - A 3 B 600/03 - asyl.net: M16171
https://www.asyl.net/rsdb/M16171
Leitsatz:

Keine Asylanerkennung, da der notwendige Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht fehlt (mit Bezugnahme auf BVerwGE 87, 52, 55; BVerwGE 87, 367, 373).

Schlagwörter: Türkei, Kausalzusammenhang, Asylverfahren,
Normen: GG Art. 16a Abs. 1, GG Art. 16a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Es spricht allerdings vieles dafür, dass den Bekundungen des Klägers über die gegen ihn gerichteten Übergriffe der türkischen Sicherheitskräfte in der Zeit um das Jahr 1989 Glauben geschenkt werden kann. Der Kläger hat bei seinen verschiedenen, zeitlich mitunter weit auseinander liegenden Anhörungen - beim Bundesamt, in den mündlichen Verhandlungen vor dem Verwaltungsgericht und vor dem Senat sowie bei den Gutachtern - im Großen und Ganzen durchaus schlüssig, im Kern weitgehend gleichbleibend und auch unter Angaben von Einzelheiten geschildert, dass er zu der fraglichen Zeit von Angehörigen der PKK unter Druck gesetzt worden ist, ihnen in Abständen Brot zu liefern, dem er dann auch nachgegeben hat, und dass er deswegen in das Visier der Sicherheitskräfte geraten, von ihnen festgenommen, etwa einen Monat lang festgehalten und in dieser Zeit schwer misshandelt worden ist.

Einer abschließenden Bewertung der Glaubhaftigkeit dieser Schilderungen, die stellenweise auch gewisse Ungereimtheiten enthalten, bedarf es indes nicht. Denn wenn man - was auch die gutachterliche Stellungnahme von vom 17.12.2004 und das Gutachten des Instituts für Forensische Ethnologie vom 2.6.2008 nahe legen - davon auszugehen hat, dass sich die vom Kläger geschilderten Vorkommnisse im Wesentlichen tatsächlich so zugetragen haben, so kann dies dennoch nicht zu seiner Anerkennung als Asylberechtigter führen. Wie der Kläger selbst angegeben hat, hat er, nachdem er nach den erlittenen Misshandlungen wieder freigelassen worden ist, den PKK-Leuten kein Brot oder andere Lebensmittel mehr geliefert, ist es in der Folgezeit nach 1989 zu keinen Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen ihn mehr gekommen und hat er in den gesamten Jahren bis zu seiner Ausreise im Juni 1996 in seinem Heimatland unbehelligt leben können. In Anbetracht dieses großen zeitlichen Abstands zwischen den Übergriffen, denen der Kläger nach seinen Angaben ausgesetzt war, und der Ausreise aus der Türkei fehlt es deshalb jedenfalls an dem für die Asylanerkennung notwendigen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht.

Zwar ist anerkannt, dass nicht nur derjenige als verfolgt ausgereist anzusehen ist, der noch während der Dauer seiner Verfolgung seinen Heimatstaat verlässt. Dies kann vielmehr auch bei einer Ausreise erst nach dem Ende einer Verfolgung der Fall sein. Die Ausreise muss dann aber unter Umständen geschehen, die bei objektiver Betrachtungsweise noch das äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck der erlittenen Verfolgung stattfindenden Flucht ergeben. Je länger der Ausländer nach erlittener Verfolgung in seinem Heimatland unbehelligt verbleibt, um so mehr schwindet der objektive äußere Zusammenhang mit seiner Ausreise dahin. Daher kann allein schon der bloße Zeitablauf dazu führen, dass eine Ausreise den Charakter einer unter dem Druck einer früheren politischen Verfolgung stehenden Flucht verliert. Daraus folgt, dass ein Ausländer, dessen politische Verfolgung in der Vergangenheit ihr Ende gefunden hat, grundsätzlich nur dann als verfolgt ausgereist angesehen werden kann, wenn er seinen Heimatstaat in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung der Verfolgung verlässt. Welche Zeitspanne in dieser Hinsicht maßgebend ist, hängt von den Umständen der jeweiligen Verhältnisse ab. Jedenfalls aber kann ein Ausländer, der nach einer beendeten politischen Verfolgung über mehrere Jahre hinweg in seinem Heimatstaat verblieben ist, ohne dort erneut von politischer Verfolgung bedroht zu sein, nicht als verfolgt ausgereist und damit als vorverfolgt angesehen werden, wenn er später seinen Heimatstaat verlässt (BVerwGE 87, 52, 55; BVerwGE 87, 367, 373).

Wenn somit der Kläger erst ungefähr sieben Jahre nach den Übergriffen und Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte die Türkei verlassen hat, kann bei der gebotenen objektiven Betrachtungsweise von dem äußeren Erscheinungsbild her nicht mehr von einer unter dem Druck erlittener Verfolgung stattgefundenen Ausreise gesprochen werden. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung am 26.9.2007 auch eingehend dazu befragt worden, wie sich sein Leben in der Zeit nach seiner Freilassung im Jahre 1989 bis hin zur Ausreise im Jahre 1996 gestaltet hat. Hiernach ergaben sich keinerlei Anhaltspunkte, die etwa darauf hindeuteten, dass in dieser Zeit weiterhin ein äußerer Verfolgungsdruck von Seiten des Staates auf dem Kläger lastete. In all diesen Jahren hat der Kläger vielmehr ein nach außen hin gleichsam normales Leben führen können. Er hatte eine eigene Familie mit Frau und Kindern, und er hatte zeitweise auch Arbeit gefunden. Zudem hat er angegeben, dass nach etwa drei bis vier Jahren auch die Spezialeinheiten weggegangen waren, die ihn 1989 misshandelt hatten. Bei alledem wird nicht übersehen, dass der Kläger auch davon gesprochen hat, in dieser Zeit in einem fortwährenden Gefühl der Angst gelebt und mitunter auch Fluchtgedanken gehabt zu haben. Indes kann ein lediglich psychischer Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und einer erst Jahre später erfolgenden Ausreise nicht genügen. Nur wenn ein durch die erlittene Verfolgung hervorgerufenes Trauma auch von dem äußeren Zusammenhang her das Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht ergibt, in diesem äußeren Zusammenhang also seine Entsprechung findet, kann es als beachtlich angesehen werden (BVerwGE 87, 52, 55). Hiervon kann jedoch - wie ausgeführt - im Falle des Klägers keine Rede sein. [...]