OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.10.2009 - 8 B 1433/09.A [= ASYLMAGAZIN 12/2009, S. 28] - asyl.net: M16187
https://www.asyl.net/rsdb/M16187
Leitsatz:

Untersagung einer Dublin-Überstellung nach Griechenland im Wege der einstweiligen Anordnung für die Dauer von sechs Monaten.

Anmerkung der Redaktion: Der 9. Senat des OVG NRW hat hingegen mit Beschlüssen vom 31.8.09 (9 B 1198/09.A) und 2.9.09 (9 B 1277/09.A) Eilanträge auf die vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Griechenland abgelehnt.

Schlagwörter: Griechenland, Abschiebungsanordnung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Bundesverfassungsgericht, Dublin II-VO, Asylverfahren
Normen: VwGO § 123; AsylVfG § 34a Abs. 2; AsylVfG § 27a;
Auszüge:

[...]

1. Der im Wortlaut des § 34a Abs. 2 AsylVfG zum Ausdruck gekommene generelle Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes ist verfassungsrechtlich zweifelhaft. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits in Bezug auf die Drittstaatsregelung in § 26a AsylVfG entschieden hat, bedarf die Regelung einer "sinnentsprechenden restriktiven Auslegung" (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 u.a. -, BVerfGE 94, 49 = juris Rn. 233). [...]

Verfassungsrechtlich nicht unproblematisch ist der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes durch § 34a Abs. 2 AsylVfG auch in dem hier maßgeblichen Anwendungsbereich des § 27a AsylVfG. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts besteht Anlass zur Untersuchung, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung bei der Anwendung von § 34a Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der Dublin II-VO zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften ist. Einer diesbezüglich erhobenen Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 - Erfolgsaussichten nicht abgesprochen und daraufhin mit Blick auf die im Falle einer Abschiebung nach Griechenland unter Berufung auf "ernst zu nehmende Quellen" zu befürchtenden Rechtsbeeinträchtigungen die Abschiebung eines Asylbewerbers untersagt.

Ob hiervon ausgehend (nur) eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des - den Rechtsschutz in Fällen der vorliegenden Art ausschließenden - § 34a Abs. 2 AsylVfG in Betracht kommt (dazu 3.) oder gegebenenfalls auch eine Verfassungswidrigkeit dieser Norm in Frage steht (dazu 2.) , kann der Senat offen lassen. In beiden Fällen ist dem Antragsteller einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren.

2. Soweit die Verfassungsmäßigkeit des § 34a Abs. 2 AsylVfG in Frage steht, ist der Senat nicht durch Art. 100 Abs. 1 GG gehindert, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.

Das dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, dass ein Gericht Folgerungen aus der Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes jedenfalls im Hauptsacheverfahren erst nach deren Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht ziehen darf. Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1982 - 1 BvR 1028/91 -, BVerfGE 86, 382 (389)).

Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vor.

a) Wirksamkeit und Anwendungsbereich des § 34a Abs. 2 AsylVfG sind im vorliegenden Fall für die Entscheidung über das Rechtsschutzgesuch entscheidungserheblich. Wäre ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG statthaft, wäre er auch begründet, weil schon vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. September 2009 ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen. Im Hinblick auf die im Hauptsacheverfahren 8 A 1789/09.A aufgeworfenen grundsätzlichen Rechts- und Tatsachenfragen hat der Senat die Berufung des Klägers durch Beschluss vom 30. September 2009 zugelassen. [...]

3. Näher liegt es, dass die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes auch im Anwendungsbereich des § 27 a AsylVfG deshalb statthaft ist, weil § 34 a Abs. 2 AsylVfG in Fortführung der in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 2 BvR 1938/93 u.a. -, BVerfGE 94, 49, aufgestellten Grundsätze verfassungskonform einschränkend auszulegen sein dürfte.

Das vom Bundesverfassungsgericht gewürdigte Konzept der normativen Vergewisserung betrifft die Anwendungsfälle des § 26a AsylVfG und berücksichtigt die durch § 26a Abs. 3 AsylVfG eingeräumte Befugnis zur Bezeichnung sicherer Drittstaaten. Ausgehend von einer bewussten Entscheidung des Gesetz- bzw. Verordnungsgebers, einen Staat als sicheren Staat einzuordnen, bedarf es konkreter Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage nachträglich in erheblicher Weise verschlechtert hat, um gleichwohl Rechtsschutz zu gewähren. Hiervon unterscheidet sich der Anwendungsbereich des § 27a AsylVfG. Nach dieser Regelung ist ein (im Bundesgebiet gestellter) Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags zuständig ist. Die Zuständigkeit des anderen EU-Mitgliedstaates ergibt sich aus der Verordnung (EG) Nr. 343/2003. Die hiernach anderen Mitgliedstaaten überlassene Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens beruht mithin nicht auf einer Bewertung des Ist-Zustandes durch den deutschen Gesetz- bzw. Verordnungsgeber, sondern auf der Prognose, dass in den EG-Mitgliedstaaten ein in verfahrensrechtlicher und materieller Hinsicht hinreichender Schutz gewährt wird. Trifft diese Annahme im Einzelfall nicht zu, ist das Konzept der normativen Vergewisserung nicht berührt. Der deutsche Gesetz- und Verordnungsgeber kann aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben einzelne EU-Mitgliedstaaten nicht durch generelle nationale Regelungen vom Anwendungsbereich der Dublin II-VO ausschließen. Einer unzureichenden Umsetzung der materiellen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben durch andere, nach der Dublin II-VO zuständige Mitgliedstaaten kann er - auch wenn es sich um einen Dauerzustand handelt - nur durch Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-VO Rechnung tragen. [...]