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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 28.10.2009 - 7 K 1192/05.KS.A - asyl.net: M16188
https://www.asyl.net/rsdb/M16188
Leitsatz:

Es kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Rückkehr nach Libyen heute im Unterschied zu der Sachlage, die dem Urteil vom 9.3.2000 zugrunde lag, nicht mehr gefährdet ist. Der Widerrufsbescheid des BAMF vom 2.8.2005 wird aufgehoben.

Schlagwörter: Widerrufsverfahren, Libyen, Änderung der Sachlage, Asylantrag,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Gericht gelangt hier nicht zu der Überzeugung, dass sich die Verhältnisse in Libyen inzwischen dahingehend geändert haben, dass die im Urteil vom 09.03.2000 bejahte Verfolgungsgefahr für den Kläger nicht mehr besteht.

Bei Erlass des Urteils vom 09.03.2000 ging die Kammer in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass einem libyschen Staatsangehörigen bereits wegen seiner Asylantragstellung und seines längeren Auslandsaufenthalts in Deutschland bei Rückkehr nach Libyen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung nach § 51 Abs. 1 AuslG. (inzwischen: § 60 Abs. 1 AufenthG) droht.

Eine Asylantragstellung im Ausland wurde von den libyschen Behörden grundsätzlich als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung gewertet und zog, sofern sie den Behörden bekannt wurde, nicht unerhebliche Repressalien nach sich. Grundsätzlich wurde Rückkehrern, die sich längere Zeit ununterbrochen im Ausland aufgehalten haben, sofern sie nicht plausible Angaben über ihren Auslandsaufenthalt machen konnten (z.B. Studium, Geschäftsreise, Krankenbehandlung), eine oppositionelle Gesinnung unterstellt. Bei Rückkehr wurden die Rückkehrer regelmäßig befragt, und sofern die Sicherheitsbehörden zu der Auffassung kamen, dass der Rückkehrer oppositionelle Aktivitäten gegen das Ghaddafi-Regime entfaltet habe, oder dies auch nur vermuteten, kam es zu weiteren Repressalien in Form von Inhaftierungen, Verhören und Misshandlungen (zu alledem: Auswärtiges Amt an VG Freiburg v. 31.05.1995 und an VG Stuttgart v. 16.04.1999; Dr. Mattes - Dt. Orient-Institut - an VG Stuttgart v. 20.01.1997 und an VG Leipzig v. 21.05.1998; amnesty international an VG Freiburg v. 08.05.1996).

In diesem Sinne äußerte sich Dr. Mattes noch in seiner Stellungnahme an das Sächs. OVG vom 21.10.2002. UNHCR Deutschland wies in seinem Gutachten v. 20.11.2000 darauf hin, dass im März 2000 7 Libyer aus Jordanien ausgewiesen wurden. Bestätigt sei, dass mindestens drei von ihnen kurz nach ihrer Ankunft getötet wurden. Im Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 02.08.2001 heißt es, dass die Asylantragstellung im Ausland von libyschen Behörden als Akt der Illoyalität gewertet werde und Libyer, die sich länger als sechs Monate im Ausland aufgehalten hätten, bei der Wiedereinreise einer ausführlichen Befragung durch Sicherheitskräfte unterzogen würden. Ergebnisse bzw. Konsequenzen derartiger Befragungen seien dem Auswärtigen Amt nicht bekannt, jedoch versuchten Auslandslibyer häufig, sich dieser Befragung durch regelmäßige Rückkehr nach weniger als sechs Monaten zu entziehen. Sodann werden Fälle von abgeschobenen Personen berichtet, die unmittelbar nach der Ankunft in Haft genommen wurden. In der Auskunft vom 29.11.2002 an das Sächs. OVG erwähnt das Auswärtige Amt einen Referenzfall der erfolgreichen Rückkehr aus Schweden nach 2-jährigem Aufenthalt während eines Asylverfahrens, wobei die schwedischen Behörden lediglich mitgeteilt hatten, dass der Betreffende keine Aufenthaltsgenehmigung für Schweden mehr besitze. Es seien zwei Befragungen erfolgt und keine weiteren Repressalien. Das Auswärtige Amt vertrat daraufhin die Auffassung, dass bei ähnlich gelagerten Fällen auch von einer ähnlichen Behandlung eines zurückgeführten Libyers ausgegangen werden könne, sofern keine politische Betätigung gegen die libysche Regierung im Ausland festzustellen sei und es sich in erster Linie um Libyer handele, die die Öffnung des Landes mit den neuen Reisemöglichkeiten nach Aufhebung des UN-Embargos nutzten. In seinen Auskünften vom 08.01.2003 an das VG Freiburg und vom 03.02.2003 an das VG Berlin wies das Auswärtige Amt nach wie vor darauf hin, dass die Asylantragstellung als Akt der Illoyalität betrachtet werde und Auslandsaufenthalte von mehr als 6 Monaten Befragungen zur Folge hätten. Mit staatlichen Repressionen sei aber nach Ansicht des Auswärtigen Amtes nur bei öffentlich wahrnehmbaren regimekritischen Aktivitäten während des Auslandsaufenthalts zu rechnen. Später führte Dr. Mattes in seiner Stellungnahme an das VG Stuttgart vom 18.12.2003 - in der es allerdings vor allem um eventuelle Repressionen wegen Wehrdienstverweigerung ging - aus, die Beantragung politischen Asyls im Ausland werde in Libyen prinzipiell als revolutionsfeindlicher Akt eingestuft ("Verrat") und werde bei einer Rückkehr - sofern es den Libyschen Behörden bekannt geworden sei - sanktioniert. Die staatlichen Repressionsmaßnahmen hingen davon ab, inwiefern bzw. in welcher Weise der Antragsteller tatsächlich oppositionell tätig geworden sei. amnesty international wies in seiner Stellungnahme vom 04.08.2003 an das Sächs. OVG darauf hin, dass weiterhin Hunderte politischer Gefangener ohne Anklageerhebung oder Prozess inhaftiert seien. Ihre Haftbedingungen seien grausam, unmenschlich und erniedrigend und hätten in der Vergangenheit mehrere Todesfälle in der Haft zur Folge gehabt. Es lägen Berichte vor, dass politische Gefangene ohne Kontakt zur Außenwelt nach wie vor verbreitet Opfer von Folterungen und Misshandlungen würden. Die Ermittlung von Informationen über konkrete Fälle von Menschenrechtsverletzungen mit allen Detailinformationen sei außerordentlich schwierig, da Libyen internationalen Menschenrechtsorganisationen, auch entsprechenden UN-Gremien, ungehinderten Zugang ins Land verweigere und Opfer von Menschenrechtsverletzungen oder deren Verwandte im In- und Ausland mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen müssten, wenn sie Informationen an Menschenrechtsorganisationen weitergäben. amnesty international habe in zahlreichen Fällen Informationen erhalten, dass zwangsweise abgeschobene Libyer bei Ankunft festgenommen worden seien, nehme zum Schutz der Betroffenen und ihrer Angehörigen aber davon Abstand, Namen und Details zu veröffentlichen. Sodann werden fünf Fälle der Inhaftierung nach Rückkehr einzeln und mit Namensnennung beschrieben. Die von der Beklagten im angegriffenen Bescheid zum Beleg dafür, dass Personen wie der Kläger bei Rückkehr nicht gefährdet seien, zitierte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.09.2004 an das VG Düsseldorf (die vermutlich den zuvor genannten Auskünften 29.12.2002 sowie vom 08.01. und 03.02.2003 entsprechen dürfte) hat der erkennende Einzelrichter in den ihm zugänglichen Asyldokumentationen nicht aufgefunden, der am 17.03.2009 an sie gerichteten Aufforderung, diese Auskunft vorzulegen, ist die Beklagte bisher nicht nachgekommen.

Neuere Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte (VG Düsseldorf vom 03.05.2005 - 16 K 8642/03.A - juris, vom 27.04.2004 -16 K 6068/03.A - juris, nur Leitsatz; Sächs. OVG vom 01.10.2003 - A 5 B 819/01-, vom 20.08.2003 - A 5 B 815/01- und VG Dresden vom 19.03.2006 - 1.A 30839/04.A - sämtlich juris) sieht eine Veränderung der Sachlage in einer "Öffnung Libyens zum Westen" und dem Umstand, dass Ghaddafi inzwischen Delegationen von amnesty international und anderen Menschenrechtsorganisationen Zutritt nach Libyen gewährt hat. Die Tendenz der zitierten Rechtsprechung geht - wohl im Anschluss insbesondere an die zuvor zitierten Auskünfte des Auswärtigen Amtes - dahin, eine Rückkehrgefährdung nur zu bejahen, wenn zu dem langen Auslandsaufenthalt und der Asylantragstellung weitere belastende Momente hinzukommen - etwa der Betreffende bereits vor seiner Ausreise oppositioneller Tätigkeit verdächtigt wurde (VG Dresden) oder Familienangehörige bereits wegen oppositioneller Tätigkeit im Inland verfolgt wurden bzw. im Exil bekannt sind (VG Düsseldorf, Sächs. OVG v. 01.10.2003).

Der erkennende Einzelrichter sieht - auch nach Würdigung der zuvor zitierten Rechtsprechung - keine Veranlassung, von der bisherigen Spruchpraxis der Kammer abzuweichen. Die Auffassung der zitierten Rechtsprechung, dass keine Verfolgungsgefahr mehr bestehe, sofern nicht noch weitere belastende Momente hinzukommen, erscheint nämlich nicht hinreichend durch einschlägige Erkenntnisse belegt und gesichert. Ungeachtet des Wandels in der libyschen Außenpolitik und der internationalen Anerkennung, die Libyen und sein Regierungschef Ghaddafi inzwischen erfahren, sind keine konkreten Anzeichen für mehr Rechtstaatlichkeit und Nachlassen der willkürlichen und rechtsstaatliche Prinzipien und Verfahrensweisen missachtenden Verfolgung Oppositioneller im Innern ersichtlich. Der Jahresbericht 2007 von amnesty international zeigt vielmehr, dass sich hier kaum etwas geändert hat. Denselben Eindruck vermittelt auch das Strafverfahren gegen den palästinensischen Arzt und die bulgarischen Krankenschwestern. Im Jahresbericht amnesty international 2007 heißt es: "Mehrere libysche Staatsbürger wurden bei ihrer Rückkehr nach Libyen wegen angeblicher politischer Aktivitäten im Ausland festgenommen oder auf andere Art und Weise eingeschüchtert. Dies geschah, obwohl den Betroffenen in einigen Fällen offenbar vorher zugesichert worden war, dass sie eine Festnahme nicht zu befürchten hätten." amnesty international nennt auch einige Personen mit Namen und macht nähere Angaben zu deren Schicksal. Im selben Sinne äußert sich die Schweizerische Flüchtlingshilfe am 30.08.2007: Obwohl sich Libyen außenpolitisch zuletzt ungewöhnlich offen gezeigt habe und die USA sowie auch die EU begonnen hätten, Beziehungen mit dem Land aufzubauen, komme es im Land weiterhin zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in vielen Bereichen des innenpolitischen und gesellschaftlichen Lebens. Recherchen bei Menschenrechtsverletzungen in Libyen seien weiterhin außerordentlich schwierig, da Libyen internationalen Menschenrechtsorganisationen und auch UN-Menschenrechtsgremien über lange Zeit ungehinderten Zugang ins Land verweigert habe und diese weiterhin streng kontrolliere. Trotz staatlicher Sicherheitsgarantien für Rückkehrende komme es weiterhin zu Verhaftungen von zurückkehrenden Regierungskritikern und Oppositionellen. Sodann werden einzelne Schicksale von Personen beschrieben, die nach der Rückkehr verhaftet wurden - wobei es sich im Wesentlichen um dieselben Fälle handelt, die auch amnesty international in seinem Jahresbericht beschreibt. Das Sächsische OVG stützt seine allgemeine Einschätzung der Situation für Rückkehrer nach Libyen in beiden zit. Entscheidungen u.a. darauf, dass nicht genügend Referenzfälle dokumentiert seien. Bei von amnesty international in der Stellungnahme vom 04.08.2003 und im Jahresbericht 2007 namentlich Genannten handelt es sich allerdings weitgehend um Personen, die durch (exil)politische Betätigung einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatten bzw. dem Regime aufgefallen waren. Dies erklärt sich aber dadurch, dass die Recherche und Dokumentation solcher Fälle in Libyen nach wie vor kaum möglich ist und diejenigen, die hierüber berichten, mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssen (siehe amnesty international v. 04.08.2003, Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 30.08.2007). Sodann sind - abgesehen von dem vom Auswärtigen Amt am 29.11.2002 genannten Fall einer unbehelligten Rückkehr nach zweijährigem Auslandsaufenthalt - in den dem erkennenden Einzelrichter zugänglichen Quellen keine weiteren Fälle der unbehelligten Rückkehr dokumentiert, so dass auch nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist, wie das Auswärtige Amt zu seiner Einschätzung kommt, dass "einfache" Rückkehrer grundsätzlich nicht mehr gefährdet sind. Bemerkenswert ist dabei auch der Hinweis, dass Auslandslibyer durch regelmäßige Rückkehr in kurzen Zeitabständen versuchen, sich der ansonsten bei Einreise fälligen Befragung zu entziehen. Seit dem 02.08.2001 hat das Auswärtige Amt überdies keine weiteren Lageberichte über Libyen mehr erstellt.

Nach allem kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Rückkehr nach Libyen im Unterschied zu der Sachlage, die dem Urteil vom 09.03.2000 zugrunde lag, nicht mehr gefährdet ist. Hinzu kommt, dass lt. Lagebericht vom 02.08.2001 Nachbestrafungen wegen im Ausland begangener Drogendelikte nicht auszuschließen, allerdings im Einzelfall nicht verifizierbar seien. [...]