VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 29.09.2009 - 11 K 3224/08 - asyl.net: M16196
https://www.asyl.net/rsdb/M16196
Leitsatz:

1. Die einer Duldung beigefügte auflösende Bedingung "Erlischt sobald der Ausländer mit dem Beginn der Zwangsmaßnahme über die Abschiebung in Kenntnis gesetzt wird" steht im Ermessen der Behörde. Die Pflicht zur Begründung dieser Nebenbestimmung entfällt nicht nach § 39 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG.

2. Die auflösende Bedingung "Erlischt sobald der Ausländer mit dem Beginn der Zwangsmaßnahme über die Abschiebung in Kenntnis gesetzt wird" ist darauf angelegt, die Möglichkeit der Betroffenen, effektiven Rechtsschutz zu erlangen, zu unterlaufen. Sie verstößt deshalb gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Duldung, Nebenbestimmung, auflösende Bedingung, effektiver Rechtsschutz, Begründungserfordernis, Ermessen
Normen: VwVfG § 39 Abs. 2 Nr. 3, GG Art. 19 Abs. 4, VwVfG § 36, AufenthG § 61 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

[...]

Bei den auflösenden Bedingungen "Erlischt sobald der Ausländer mit dem Beginn der Zwangsmaßnahme über die Abschiebung in Kenntnis gesetzt wird" handelt es sich um echte Nebenbestimmungen, die ihre Rechtsgrundlage in § 36 LVwVfG finden und nicht in § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (vgl. Funke-Kaiser a.a.O. RdNr. 91). Die Beifügung der auflösenden Bedingung steht im Ermessen der Behörde (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl., § 36 RdNr. 46 a). Der nach Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich garantierte gerichtliche Rechtsschutz setzt voraus, dass die Behörde offenbart, von welchen Gesichtspunkten sie sich bei der Ausübung des Ermessens hat leiten lassen. Diesem Zweck dient auch die Pflicht zur Begründung von Verwaltungsakten gemäß § 39 Abs. 1 LVwVfG (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.09.1996 - 1 C 9/94 - BVerwGE 102, 63). Die streitgegenständlichen auflösenden Bedingungen sind nicht mit einer Begründung versehen, so dass die Gesichtspunkte, die die Beklagte dazu bewogen hat, von ihrem Ermessen dahingehend Gebrauch zu machen, nicht erkennbar sind. Die Begründungspflicht entfiel im vorliegenden Fall auch nicht im Hinblick auf § 39 Abs. 2 Nr. 3 LVwVfG. Es handelt sich nicht um einen Verwaltungsakt, der gleichartig in größerer Zahl erlassen wird. Hierunter sind nur solche Verwaltungsakte zu verstehen, die zur Regelung eines bestimmten einheitlichen Anlasses von der Behörde in größerer Zahl gleichartig getroffen werden. Hierzu zählt aber nicht der Fall, dass ein in zeitlichen Abständen immer wieder in einer anderen Person sich verwirklichender Tatbestand durch eine Nebenbestimmung geregelt wird. Bei einer zu treffenden Ermessensentscheidung über die Beifügung einer Nebenbestimmung ergibt sich die Begründung auch nicht aus der Natur der Sache; es ist vielmehr geboten, die maßgeblichen Erwägungen, die zu der Beifügung der Nebenbestimmung seitens der Behörde geführt haben, in einer Weise aufzuführen, die der Begründung von Ermessensentscheidungen entspricht. Schließlich war vorliegend eine Begründung auch nicht deshalb entbehrlich, weil sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten ist. Die Aufenthaltsbeendigung ist eine der schwerwiegendsten Eingriffe, denen ein Ausländer ausgesetzt ist. Gerade im Hinblick darauf, dass die Behörde eine Ermessensentscheidung hierüber trifft, ist die Begründung nach den Umständen des Einzelfalls in diesen Fällen regelmäßig geboten.

Unabhängig von der fehlenden Begründung sind die streitgegenständlichen auflösenden Bedingungen auch wegen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. Die auflösenden Bedingungen "Erlischt sobald der Ausländer mit dem Beginn der Zwangsmaßnahme über die Abschiebung in Kenntnis gesetzt wird" sind unübersehbar darauf angelegt, die Möglichkeit der Betroffenen, effektiven Rechtsschutz zu erlangen, zu unterlaufen. Einer derartigen Ermessenspraxis liegt der Generalverdacht zugrunde, dass typischerweise vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer sich der Abschiebung durch Untertauchen entziehen werden; für diese Annahme gibt es jedoch keine ausreichend empirisch gesicherten Grundlagen (vgl. Funke-Kaiser a.a.O. RdNr. 96).

Schließlich waren die angefochtenen auflösenden Bedingungen im vorliegenden Fall nicht erforderlich und daher ermessensfehlerhaft. Im Hinblick auf die Erkrankung der Klägerin zu 4 und den Beschluss des VG Stuttgart vom 28.08.2006 - 16 K 3173/06 -, durch den der Beklagten eine Abschiebung der Kläger aus dem Bundesgebiet untersagt wurde, bestanden keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass innerhalb der regelmäßig kurzen Geltungsdauer der den Klägern erteilten Duldungen eine Abschiebung in Betracht kommen könnte. Damit fehlte es an der Erforderlichkeit der streitgegenständlichen auflösenden Bedingungen (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O. RdNr. 96). Die rechtswidrigen auflösenden Bedingungen hätten somit keinen Bestand gehabt. [...]