VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 04.09.2009 - 6 K 1309/09.A - asyl.net: M16204
https://www.asyl.net/rsdb/M16204
Leitsatz:

Nach der aktuellen Erkenntnislage gibt es in der Türkei keine Sippenhaft mehr. Die Klage gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung hat daher keinen Erfolg.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Sippenhaft, PKK
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin (Ziffer 1 des Bundesamtsbescheides) liegen vor.

Ermächtigungsgrundlage ist insofern § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (Bundesgesetzblatt I S. 1798), vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG. Danach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. [...]

Nach der aktuellen Erkenntnislage gibt es in der Türkei keine Sippenhaft mehr.

Die frühere Prognose, dass Sippenhaft nahen Angehörigen (Ehegatten, Eltern, Kindern ab 13 Jahren und Geschwistern) von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation ohne weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist nach der aktuellen Erkenntnislage nicht mehr gerechtfertigt. Familienangehörige gesuchter Personen werden zwar zu Vernehmungen geladen, z.B. um über den Aufenthalt von Verdächtigen befragt zu werden. Auch kann es zur zwangsweisen Vorführung kommen, wenn Ladungen nicht befolgt werden. Seit 2003 ist jedoch den Menschenrechtsvereinen IHD und TIV kein Fall bekannt geworden, in dem es in der Türkei zu Übergriffen gegen Familienangehörige gekommen ist. Etwas anderes kann deshalb nur bei außergewöhnlichen Umständen gelten, etwa wenn sich greifbare und nachgewiesene Anhaltspunkte für aktuelle Übergriffe auf Familienmitglieder ergeben und zwingende Gründe dafür sprechen, dass dies auch für ein aus Deutschland zurückkehrendes Familienmitglied der Fall sein wird (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. Juli 2006 (Stand: Juni 2006), S. 28; vom 17. Januar 2007 (Stand: Dezember 2006), S. 22; vom 11. September 2008 (Stand: Juli 2008), S. 27; vom 29. Juni 2009 (Stand: Mai 2009); OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/03.A -, S. 98 bis 103 des amtlichen Umdrucks, juris; Kammerurteil vom 8. November 2006 - 6 K 2099/05 -, juris, VG Arnsberg, Urteil vom 17. September 2007 - 14 K 159/07 -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 13. Februar 2009 - 17 K 4620/08.A).

Vor diesem Hintergrund kann für die Klägerin eine Gefahr unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Sie hat nicht vorgetragen, in der Türkei bereits Opfer von Sippenhaft gewesen zu sein. Es ist nicht ersichtlich, warum sie dies nun werden sollte. Ihr Stiefsohn N1. wird lediglich mit einem Vollstreckungshaftbefehl gesucht, weil er die PKK unterstützt hat, nicht aber wegen des Verdachts der aktiven Mitgliedschaft in der PKK. Ein greifbarer Anhaltspunkt dafür, dass gegen die Klägerin physischer Druck und Folter angewendet werden könnte, um ihres Stiefsohns N1. habhaft zu werden, ergibt sich damit aus der Schwere der Tat, für die der Stiefsohn verurteilt worden ist, gerade nicht. Auch hat die Klägerin nicht darlegen können, dass es wegen des Stiefsohns N1. in den letzten Jahren noch zu asylrelevanten Übergriffen gegen andere, noch in der Türkei lebende Familienmitglieder gekommen ist. Im Gegenteil hat ihr in der mündlichen Verhandlung anwesender Sohn O2. - der im Jahre 1995 als Asylbewerber nach Deutschland eingereist und inzwischen deutscher Staatsbürger ist - auf Frage des Gerichts erklärt, er habe zuletzt im Jahre 2007 in der Türkei Urlaub gemacht. Die weitere Frage, ob er von staatlichen Übergriffen gegen eines der noch in der Türkei lebenden Familienmitglieder berichten könne, hat er verneint. Das Verhalten und die Erklärungen des Sohnes der Klägerin bestätigen damit die Einschätzung des Gerichts, dass auch die Klägerin staatliche Repressalien in die Türkei nicht mehr befürchten muss.

Die Klägerin ist im Übrigen auch vor politischer Verfolgung in der Türkei aus anderen Gründen hinreichend sicher. Dass sie die Türkei verlassen hat, weil ihr andere Gefahren als die Verfolgung unter dem Aspekt der Sippenhaft gedroht haben, hat sie nicht vorgetragen; sie sind auch sonst nicht ersichtlich. [...]