VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 09.11.2009 - 3 B 2947/09 - asyl.net: M16217
https://www.asyl.net/rsdb/M16217
Leitsatz:

Da angesichts der Zustellungspraxis des BAMF in Dublin-Verfahren die rechtzeitige Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes für den Ausländers jedenfalls erheblich erschwert wird, wird das BAMF verpflichtet, im Falle des Erlasses einer Abschiebungsanordnung sicherzustellen, dass die Abschiebung nicht vor Ablauf einer Frist von einer Woche nach Zustellung des Dublin-Bescheids an den Antragsteller und Zuleitung eines Abdrucks des Bescheids an die Bevollmächtigten durchgeführt wird.

Der Beschluss enthält ausführliche rechtliche Ausführungen zur Zustellungspraxis des BAMF in Dublin-Verfahren, insbesondere zur wirksamen Zustellung von Dublin-Bescheiden (§ 31 Abs. 1 S. 4 AsyVfG).

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin II-VO, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland
Normen: VwGO § 123 Abs. 1 Satz 2, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 31 Abs. 1 Satz 4
Auszüge:

[...]

1. Der Antrag des Antragstellers ist statthaft, weil vorläufiger Rechtsschutz gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Betracht kommt (siehe § 123 Abs. 5 VwGO). Ein entsprechender Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wäre unzulässig, weil er die Existenz eines Verwaltungsakts voraussetzt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Komm., 14. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 130). Der - selbst nach dem Vorbringen beider Beteiligten noch nicht zugestellte - Bescheid vom 27. August 2009 ist noch nicht wirksam erlassen worden. Er befindet sich zwar als Ausdruck im Verwaltungsvorgang des Bundesamtes. Außerdem hat der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers sinngemäß erklärt, "der Bescheid" sei ihm von der Ausländerbehörde vorab zugefaxt worden. Dies ist im vorliegenden Fall für eine wirksame Bekanntgabe aber nicht ausreichend.

Wird der Asylantrag nur nach § 26 a oder § 27 a Asylverfahrensgesetz (AsyIVfG) abgelehnt, ist die Entscheidung zusammen mit der Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylVfG dem Ausländer selbst zuzustellen (§ 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG). Im Übrigen richtet sich die Zustellung nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG), soweit sich aus § 10 AsylVfG nichts anderes ergibt. Die wirksame Zustellung des Bescheides ist Voraussetzung für den Eintritt der Wirksamkeit des Bescheides gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), sofern nicht eine Heilung nach § 8 VwZG erfolgt, da im Übrigen für die Wirksamkeit des Verwaltungsakts die Wirksamkeit der Bekanntgabe erforderlich ist (vgl. U. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7 Auflage 2008, § 41 Rdnr. 200). Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird, und nach § 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, wobei Vorschriften über die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes mittels Zustellung gemäß § 41 Abs. 5 VwVfG unberührt bleiben.

Hiervon ausgehend ist der Bescheid dem Antragsteller selbst noch gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG zuzustellen (und damit bekanntzugeben), weil im Bescheid(-Entwurf) ausgeführt wird, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig. § 8 VwZG findet keine Anwendung. Danach gilt ein Dokument, wenn sich dessen formgerechte Zustellung nicht nachweisen lässt oder es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. im Fall des § 5 Abs. 5 VwZG in dem Zeitpunkt, in dem der Empfänger das Empfangsbekenntnis zurückgesendet hat. Wegen der Vorschrift des § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG ist der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers insoweit nicht Empfangsberechtigter i.S.v. § 8 VwZG. Dementsprechend soll, wenn der Ausländer durch einen Bevollmächtigten vertreten wird oder er einen Empfangsberechtigten benannt hat, diesem gemäß § 31 Abs. 1 Satz 6 AsylVfG lediglich ein Abdruck der Entscheidung zugeleitet werden. Selbst wenn man unterstellt, dass der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers diesem eine Kopie des per Fax erhaltenen "Bescheides" ausgehändigt hat, ist § 8 VwZG nicht anwendbar, weil die Heilung von Zustellungsmängeln voraussetzt, dass die zuständige Behörde den Willen hatte, eine Zustellung vorzunehmen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Mai 2006 - 6 B 65/05 -, juris, Rn. 7, mit Veröffentlichungshinweis u.a. auf NVwZ 2006, 943). Diese Voraussetzung ist hier ebenfalls nicht erfüllt, und zwar auch dann nicht, wenn man der Auffassung ist, der erforderliche Zustellungswille müsse sich nur auf die Übermittlung des Schriftstücks als solche, nicht aber darüber hinaus auch auf dessen Bekanntgabe in den besonderen Formen des Verwaltungszustellungsrechts beziehen (vgl. zum Zustellungswillen: BVerwG, Beschluss vom 31. Mai 2006, a.a.O.). Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt zu dem Zeitpunkt, als die ZAAB Niedersachsen dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers das genannte Dokument per Fax übermittelte, den Willen hatte, den Bescheid mit dieser Übermittlung dem Antragsteller zuzuleiten. So trägt auch die Antragsgegnerin vor, der Bescheid sei derzeit noch nicht zugestellt worden.

Des Weiteren fehlt dem Antragsteller für den statthaften Antrag nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Zwar trägt er selbst vor, dass ihm der Bescheid am 10. November 2009, also morgen zugestellt werden solle und die Abschiebung für den 11. November 2009 vorgesehen sei. Ihm ist aber nicht zuzumuten, die Zustellung des Bescheides vom 27. August 2009 nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG abzuwarten. Denn trotz Kenntnis vom vorgesehenen Zustelltermin spricht Einiges dafür, dass eine noch rechtzeitige Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Ausländer gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ohne einen Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO jedenfalls erheblich erschwert werden würde. Insbesondere ist nicht bekannt, wann genau der Bescheid am 10, November 2009 zugestellt werden soll. In diesem Zusammenhang kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Bundesamt in der Mitteilung an die ZAAB vom 4. November 2009 darum gebeten hat, die Bescheidzustellung gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG - soweit möglich - erst am Überstellungstag vorzunehmen. Schließlich hat die Antragsgegnerin bisher nicht erklärt, von einer Zurückschiebung (derzeit) unabhängig von einem anhängigen Eilverfahren absehen zu wollen. Vielmehr heißt es in der Antwort der Bundesregierung vom 22. Oktober 2009 - BT-Drucksache 16/14149 - auf eine kleine Anfrage sinngemäß, da die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 8. September 2009 (- 2 BvQ 56/09 -, juris, mit Veröffentlichungshinweis u.a. auf DVBl. 2009. 1304 =NVwZ 2009, 1281), 23. September 2009 (- 2 BvQ 68/09 -) und 9. Oktober 2009 (- 2 BvQ 72/09 -) keine Aussage zur Zulässigkeit der Überstellung nach Griechenland enthielten, würden die zuständigen Behörden - sofern in Einzelfällen keine gegenteilige Entscheidung von Verwaltungsgerichten getroffen werde - bis zur Entscheidung in der Hauptsache weiter Dublin-Verfahren bezüglich Griechenland betreiben, es sei denn, es handele sich um besonders schutzbedürftige Personen. Deutschland habe bereits in zahlreichen Fällen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht.

Der Zulässigkeit des Antrags steht auch § 34 a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Soll ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Der Antragsteller soll in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylVfG) abgeschoben werden. Dabei ist die Rückführung bzw. Überstellung eines Ausländers in einen anderen zuständigen Mitglied- bzw. Vertragsstaat nur auf der Grundlage des § 27 a AsylVfG i.V.m. § 34 a AsylVfG zulässig (vgl. Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand: Oktober 2009, § 27 a Rdnr. 9).

Eine derartige Abschiebung darf zwar gemäß § 34 a Abs. 2 AsylVfG nach seinem Wortlaut nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Grundsätzlich ist die Berufung auf das Asylgrundrecht gemäß Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) für Ausländer ausgeschlossen, die aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Vom Ausländer selbst zu verantwortende Hindernisse, ein Schutzgesuch anzubringen, bleiben außer Betracht. Soll der Ausländer in einen derartigen Staat zurückgewiesen oder zurückgebracht werden, kommen für ihn entsprechend der inhaltlichen Reichweite des Art. 16 a Abs. 2 GG grundsätzlich auch die materiellen Rechtspositionen, auf die ein Ausländer sich sonst gegen seine Abschiebung stützen kann (insb. § 60 Abs. 1 bis 5 und 7 Aufenthaltsgesetz - AufenthG -), nicht in Betracht. Nicht berührt werden hingegen die gegen den Vollzug einer Abschiebungsanordnung gerichteten humanitären und persönlichen Gründe, die zur Erteilung einer Duldung gemäß § 60 a AufenthG führen können (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93: 2315/93 -, juris, Rdnr. 180, mit Veröffentlichungshinweis u.a. auf BVerfGE 94, 49 = NVwZ 1996. 700). [...]

Der Antragsteller trägt sinngemäß vor, in Griechenland sei ein effektiver Zugang zu einem Asylverfahren ausgeschlossen. Es gebe generell nicht die Gewissheit eines ordnungsgemäßen, der EMRK entsprechenden Verfahrens für Asylbewerber in Griechenland. Es bestehe für ihn die hinreichende Gefahr, mit großer Wahrscheinlichkeit ohne ausreichende Prüfung aus Griechenland in das Heimatland abgeschoben zu werden, falls die Antragsgegnerin ihn wie beabsichtigt nach Griechenland abschiebe. Dies aber würde angesichts seiner persönlichen Situation und seiner Verfolgungsgefährdung in Afghanistan dort zu einer asylerheblichen Verfolgung führen.

Die 3. Kammer des Gerichts hat zwar bisher hinsichtlich einer Überstellung nach Griechenland verneint, dass aufgrund der jeweils vorliegenden Erkenntnismittel einer der oben dargestellten, im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 ausdrücklich genannten Sonderfälle tatsächlich gegeben war (zur bisherigen Rechtsprechung der Kammer vgl. z.B. Beschlüsse vom 26. Januar 2009 - 3 B 300/09 -, juris, und 8. Juli 2009 - 3 B 1574/09 -, V.n.b.). Hinsichtlich des Staates Griechenland schließt sich das Gericht aber den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 8. September 2009 an, weil es danach offenbar möglich ist, dass das Bundesverfassungsgericht einen weiteren Sonderfall im oben genannten Sinn feststellen wird, und weil es an seiner Auffassung auch in der Folgezeit festgehalten hat (vgl. Beschlüsse vom 23. September 2009 - 2 BvQ 68/09 -, und vom 9. Oktober 2009 - 2 BvQ 72/09 -). Abgesehen davon sprechen hierfür verfahrensökonomische Gründe. [...]