OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19.11.2009 - 13 MC 166/09 - asyl.net: M16226
https://www.asyl.net/rsdb/M16226
Leitsatz:

Der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG, nach der ein Asylbewerber nach Griechenland als den zur Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, stehen jedenfalls derzeit - aufgrund der aktuellen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung - die Regelungen in § 34 a Abs. 2 AsylVfG und Art. 16 a Abs. 2 Satz 3 GG nicht entgegen.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin II-VO, Griechenland, vorläufiger Rechtsschutz
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, GG Art. 16a Abs. 2
Auszüge:

[...]

a) Der (Abänderungs-)Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist statthaft, weil der Klage gegen den angegriffenen Bescheid der Beklagten nach § 75 AsylVfG von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung zukommt und der gesetzliche Ausschluss der Aussetzung der Abschiebung nach § 34a Abs. 2 AsylVfG, der in Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG seine verfassungsrechtliche Grundlage findet, nicht eingreift. [...]

bb) Der Statthaftigkeit des Antrags stehen § 34a Abs. 2 AsylVfG und Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG nicht entgegen. Zwar hat der (Verfassungs-)Gesetzgeber bestimmt, dass insbesondere Abschiebungen in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ungeachtet eines Rechtsbehelfs vollzogen werden können und die Abschiebung auch nicht nach §§ 80 oder 123 VwGO ausgesetzt werden darf. Eine solche Konstellation liegt hier auch vor, weil die Antragsgegnerin den Antragsteller nach Griechenland als den für die Durchführung des Asylverfahrens nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 ("Dublin II-Verordnung") zuständigen Staat abschieben will.

(1) Der Ausschluss der Möglichkeit, vorläufigen Rechtsschutz zu erlangen, gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Urteil vom 14. Mai 1996 (2 BvR 1938/93 u.a., BVerfGE 94, 49, juris Rdnr. 198, 233) in Bezug auf die Drittstaatenregelung des § 26a AsylVfG ausgeführt, dass der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes nicht über die Grenzen hinausreiche, die dem der Drittstaatenregelung zugrunde liegenden Konzept der "normativen Vergewisserung" des Verfassungs-)Gesetzgebers über die Sicherheit im Drittstaat gesetzt seien. Die Grenzen hat das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung unter Bezeichnung einzelner Fallgruppen dort gezogen, wo die Schutzbedürftigkeit durch Umstände begründet wird, "die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind" (BVerfG, a.a.O., juris Rdnr. 189). Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem der Sache nach eine teleologische Reduktion des (grund-)gesetzlichen Ausschlusses der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorgenommen und auf dieser Grundlage die Vereinbarkeit der auf dem sog. "Asylkompromiss" beruhenden und 1993 eingeführten Neuregelung mit dem Grundgesetz festgestellt wurde, hat nach § 31 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BVerfGG selbst Gesetzeskraft.

(2) Hinsichtlich einer auch im vorliegenden Fall streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung zur Abschiebung eines aus dem Irak stammenden Asylantragstellers nach Griechenland als den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat hat das Bundesverfassungsgericht in seiner aktuellen Rechtsprechung (Beschl. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, juris; Beschl. v. 09.10.2009 - 2 BvQ 72/09 -, V.n.b.) an die vorbezeichnete Entscheidung angeknüpft und im Rahmen einer Interessenabwägung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG die Vollziehung der Abschiebung nach Griechenland vorläufig untersagt, ohne sich daran durch Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG und § 34a Abs. 2 AsylVfG gehindert zu sehen. Diese Entscheidung ist nach Auffassung des Senats auch im Rahmen des fachgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes zu verwirklichen, ohne dass dem das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG entgegenstehen würde. Zum einen geht es aus Sicht des Senats nach der erkennbaren Konzeption des Bundesverfassungsgerichts lediglich um eine weitere teleologische Einschränkung des (grund-)gesetzlichen Ausschlusses des vorläufigen Rechtsschutzes bei Abschiebungen in einen sicheren Drittstaat oder in einen zur Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, die an die Gesetzeskraft entfaltende frühere Entscheidung anknüpft und diese fortführt. Mithin liegt schon im Ansatz keine Konstellation vor, die das Verwerfungsmonopol berühren könnte. Es steht nicht in Rede, eine Norm als verfassungswidrig einzustufen und sie deshalb nicht anzuwenden, sondern es geht nur um eine teleologische Normbetrachtung, die das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung 15. Mai 1996 für notwendig gehalten hat. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht durch die Gewährung vorläufigen (verfassungsgerichtlichen) Rechtsschutzes eine solche Einschränkung jedenfalls für gegenwärtig zu entscheidende Fälle von beabsichtigten Abschiebungen nach Griechenland unter Verweis auf die dies zulassenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts (Art. 19 Abs. 1 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003) selbst vorgezeichnet. Im Übrigen ist ein Fachgericht grundsätzlich auch dann nicht daran gehindert, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn es ein entscheidungserhebliches formelles Gesetz nicht nur einschränkend auslegen will, sondern es für verfassungswidrig hält (vgl. Kopp/Schenke: VwGO-Kommentar, 15. Aufl., § 80 Rdnr. 161 m.w.N.). Die Statthaftigkeit fachgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes zu verneinen und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes deshalb zu versagen, hätte demgegenüber zur Folge, dass dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerden jedenfalls gegenwärtig aller Voraussicht nach erfolgreich wären. Dem kann auf fachgerichtlicher Ebene derzeit nur dadurch Rechnung getragen werden, dass in "Dublin II-Fällen", in denen es um Rücküberstellungen nach Griechenland geht, Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht bereits nach § 34a Abs. 2 AsylVfG und Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG als unstatthaft angesehen werden (vgl. auch OVG Münster, Beschl. v. 07.10.2009 - 8 B 1433/09.A -, juris, das im Ergebnis die Möglichkeit fachgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes bei Überstellungen nach Griechenland ebenfalls bejaht). [...]