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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 03.11.2009 - 5315549-1-122 - asyl.net: M16237
https://www.asyl.net/rsdb/M16237
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Bosnien und Herzegowina, da die erforderliche medizinische Behandlung im Heimatland nicht erreichbar ist (u.a. ausführliche Darstellung des Gesundheitssystems).

Schlagwörter: Bosnien und Herzegowina, Abschiebungsverbot, Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Das Gesundheitssystem in Bosnien und Herzegowina gliedert sich in drei Bereiche. Der primäre Gesundheitsschutz umfasst medizinische Vorsorge, Notfallmedizin, Schul- und Arbeitsmedizin, Vorsorge für Mutter und Kind, hausärztliche, allgemeinärztliche und zahnärztliche Behandlung sowie Arzneimittelversorgung. Er wird durch sog. Gesundheitshäuser, Erste-Hilfe-Stationen (i.d.R. angegliedert an Ambulanzen und Krankenhäuser), Zahnarztpraxen und Apotheken sichergestellt. Sekundärer (fachärztlich-konsultativer) Gesundheitsschutz umfasst Diagnostik, Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen in Fällen, in denen keine stationäre Behandlung notwendig ist. Er wird durch Gesundheitshäuser, ärztliche Privatpraxen und Krankenhäuser (Kliniken) sichergestellt. Im tertiären Bereich findet man alle medizinischen Anwendungen in stationären Einrichtungen, also in Krankenhäusern und Kliniken, die überwiegend staatlich organisiert und finanziert sind. Es gibt über 300 Ambulanzen, die jeweils zwischen 2.000 und 10.000 Einwohner versorgen. Grundsätzlich existiert in jeder größeren Gemeinde (ca. 120 in BIH) ein Gesundheitshaus, das eine medizinische Versorgung für 20.000 bis 50.000 Einwohner sicherstellen soll. Mittlerweile gibt es in der FBIH (Föderation Bosnien und Herzegowina) und der RS (Serbische Republik Bosnien und Herzegowina) jeweils 15 staatliche Krankenhäuser. Dazu kommt ein privates Krankenhaus, eine Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe in Milici (RS), verschiedene private Polikliniken in Sarajewo, die jedoch nur ambulante Behandlungen durchführen, sowie eine private (deutsche) Fachklinik für Kardiologie und Herzchirurgie in Fojnica. In größeren Städten gibt es einige privatärztliche Praxen.

Rehabilitationsmaßnahmen können nur in Fojnica, Gra?anica, Tuzla, Olovo (FBIH) und in Slatina (Laktaši) und Tesli?, beide in der RS, durchgeführt werden, wobei die mit deutscher Unterstützung errichtete Einrichtung in Fojnica den höchsten Standard aufweist und auch eine gefestigte berufliche Wiedereingliederung ermöglicht. Ambulante Rehabilitationsmaßnahmen wie z.B. Krankengymnastik sind privat in vielen größeren Orten möglich.

Insgesamt sind viele - insbesondere staatliche - medizinische Einrichtungen in BIH, vor allem außerhalb von Sarajewo, in einem schlechten Zustand. Die Geräteausstattung verbessert sich zwar langsam, hat aber westliches Niveau bei weitem noch nicht erreicht. Ärzte und Pflegepersonal sind ausreichend vorhanden und weisen in der Regel eine gute, vorwiegend theoretische Ausbildung auf. Defizite bestehen in der Anwendung moderner Operationsmethoden, Diagnostik und im Krankenhausmanagement. Die finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitswesens ist unzureichend. Substanzielle Investitionen im Bereich Gesundheit, Erziehung und Sozialwesen fehlen bisher (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht a.a.O.). [...]

In dem fachärztlichen Attest des Nordwestdeutschen Rheumazentrums vom 04.06.08 wird unter der Überschrift Beurteilung und Verlauf ausdrücklich angegeben, dass es sich bei dem Antragsteller um ein schwerkrankes Kind handele, das für viele Jahre kinderärztliche und insbesondere auch kinderrheumatologische Versorgung benötigen werde. Ohne eine ausreichende Therapie der Grunderkrankung seien schwere Organschäden durch die hohe Entzündungsaktivität vorhersehbar (siehe dort S. 6, 7). Allen eingereichten Attesten des Nordwestdeutschen Rheumazentrums, so auch dem aktuellsten vom 23.06.09, lässt sich zudem entnehmen, dass eine intensive Behandlung mit regelmäßigen fachärztlichen Kontrolluntersuchungen, regelmäßigen, verschiedenartigen Laboruntersuchungen und Krankengymnastik erfolgt.

Zu prüfen ist, ob angesichts der dargestellten Situation des Gesundheitswesens in Bosnien und Herzegowina dort eine Behandlung das Antragstellers in einem Umfang möglich ist, dass zumindest eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes vermieden werden kann.

Dies dürfte im Ergebnis zu bejahen sein.

Der Antragsteller stammt aus dem Kreis Tuzla und hat dort mit seinen Eltern und Verwandten gelebt. Tuzla ist eine Industriestadt im Nordosten von Bosnien und Herzegowina. Tuzla ist die Kantonshauptstadt des gleichnamigen Kantons der Föderation Bosnien und Herzegowina. Die Stadt hat ca. 131.000 Einwohner. Damit ist Tuzla die drittgrößte Stadt in Bosnien und Herzegowina. Die Fläche der Stadt beträgt 15 qkm, die der Kommune 303 qkm. Der Kanton Tuzla ist mit ca. 500.000 Einwohnern der bevölkerungsreichste Kanton des Landes. Seit 1978 ist Tuzla Universitätsstadt.

Es ist davon auszugehen, dass die medizinischen Versorgungsmöglichkeiten in dieser Stadt vergleichsweise gut sind und dass die Universitätsklinik, in der der Antragsteller behandelt wurde, auch einen vergleichsweise hohen Standard hat.

Alle grundlegenden Diagnosen dieser Klinik wurden auch durch die in Deutschland gefertigtem Atteste als korrekt bestätigt. Auch wurde durch diese Klinik eine differenzierte Behandlung begonnen und entsprechende Medikamente verordnet.

Wie dem aktuellsten der Atteste dieser Klinik über die dortige Behandlung des Antragstellers vom 18.02.08 bis 27.02.08 zu entnehmen ist, wurde auch erkannt, dass die bis zu diesem Zeitpunkt erfolgte Therapie nicht ausreichend gewirkt habe.

Es ist daher davon auszugehen, dass grundsätzlich die Arthritiserkrankung des Antragstellers in Bosnien und Herzegowina behandelbar ist und auch die erforderlichen Medikamente zur Verfügung stehen (so auch bereits die Auskunft der Auswärtigen Amtes vom 05.06.1998, Az: 514-518.80/6 BIH (ISN 28665); Erkenntnisse, dass sich zwischenzeitlich an der grundsätzlichen Behandelbarkeit dieser Erkrankung in Bosnien und Herzegowina etwas geändert habe, liegen dem Bundesamt nicht vor). Auch davon, dass die weiteren dem Antragsteller attestierten Erkrankungen dort behandelbar sind, ist auszugehen.

Eine gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG zu berücksichtigende zielstaatsbezogene Gefahr kann sich trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer die benötigte medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen tatsächlich nicht zugänglich ist (BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, EZAR 043 Nr. 56 und vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 363 m.w.N.).

Der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs München vorn 13.12.2000 (19 ZB 00.31925). wonach eine fehlende finanzielle Liquidität kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot darstelle, ist nicht zu folgen, da es nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unerheblich ist, welche Ursache der im Herkunftsland bestehenden Gefahr zu Grunde liegt (BVerwG, Urteil vorn 25.11.1997 a.a.O.).

Nach einem Abkommen zwischen den Gesundheitsministerien von FBIH (Föderation Bosnien und Herzegowina), RS (Serbische Republik Bosnien und Herzegowina) und dem Br?ko-Distrikt soll eine medizinische Versorgung für alle Rückkehrer in ihrem aktuellen Wohnort gewährleistet werden. Grundsätzlich sind in BIH alle Arbeitstätigen, Rentner und als arbeitslos gemeldeten Personen gesetzlich krankenversichert. Dennoch gibt es insbesondere bei nicht arbeitsfähigen Flüchtlingen, die aus dem Ausland zurückkehren und nie einer Beschäftigung in BIH nachgegangen sind, immer wieder Probleme bis hin zur Verweigerung der Gesundheitsfürsorge. Allerdings gilt die obligatorische Krankenversicherung auch für Kinder bis 15 Jahren (bei einer höheren Ausbildung bis 18 Jahren) mit bosnisch-herzegowinischer Staatsangehörigkeit.

Das bedeutet, dass der neunjährige Antragsteller bei Rückkehr ins Heimatland jedenfalls staatlichen Krankenversicherungsschutz hätte.

Das Krankenversicherungswesen liegt in der FBIH bei den Kantonsverwaltungen und der Entitätsverwaltung, in der RS auf Entitätsebene bei einem Versicherungsfonds. Der tatsächliche Umfang der Versicherungsleistungen weist je nach Finanzkraft der Kantone deutliche Unterschiede auf. Dies wirkt sich auf die finanzielle Selbstbeteiligung der Patienten aus, die je nach Kanton, Behandlung und Krankheitsbild unterschiedlich hoch ist.

Generell sind gängige Medikamente auf dem örtlichen Markt erhältlich und werden, soweit Krankenversicherungsschutz besteht, je nach Krankheit auch von den örtlichen Ärzten verordnet und dann auch von der Krankenversicherung bezahlt. Spezialmedikamente, die nicht auf der Liste der erstattungsfähigen Medikamente stehen, werden in der Regel nicht von der Gesundheitsbehörde erstattet. Sie können zwar auf dem Importweg oder privat aus dem Ausland beschafft werden, müssen dann aber auch privat bezahlt werden. Die jährlich zu aktualisierenden kantonalen Listen der Pflichtarzneimittel (Medikamente, die ständig verfügbar und für die Patienten weitgehend kostenlos zu beziehen sind) existieren in manchen Kantonen nicht. Als Folge müssen viele Patienten den vollen Preis für ihre Medikamente zahlen. Äußerst selten wird eine Freistellung von der Kostenpflicht in sehr ernsten und akuten Notfällen erteilt (vgl. Lagebericht a.a.O.).

Diese Situation des Gesundheitswesens ist unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Lebensstandards der Gesamtbevölkerung in Bosnien und Herzegowina zu bewerten. Dieser ist niedrig. Der durchschnittliche monatliche Nettolohn in BIH liegt bei umgerechnet ca. 370 Euro. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit (Grund-)Nahrungsmitteln, Kleidung, Heizmaterial, Strom etc. ist landesweit sichergestellt, die Versorgungslage für viele Familien bleibt aber wegen fehlender Einkommen und Arbeitslosigkeit - nach Angaben der BIH-Statistikagentur 23,4%; Jugendarbeitslosigkeit ca. 70 % - schwierig. Die durchschnittliche Rentenhöhe von ca. 50-100 Euro ist ohne die in ländlichen Gebieten übliche, in den Städten jedoch oft nicht mögliche Subsistenzwirtschaft für eine Grundversorgung mit Nahrungsmitteln für eine Einzelperson zu gering. Die Höhe der Sozialhilfe liegt zwischen umgerechnet 5 und 50 Euro pro Monat. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsganze und hat weniger als 150 Euro monatlich zur Verfügung.

Für den Antragsteller wurde angegeben, er habe im Heimatland mit seiner Familie unter ärmlichen Bedingungen gelebt. Diese Angabe ist glaubhaft. Wie oben dargestellt, lebt die Mehrheit der Bevölkerung in finanziell schwieriger Lage. Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei dem Antragsteller und seiner Familie anders verhalten habe als bei der Mehrheit der Bevölkerung, liegen nicht vor.

Aus der vorgelegten fachärztlichen Attesten, auch dem aktuellsten des Nordwestdeutschen Rheumazentrums vom 23.06.09, ergibt sich außerdem, dass der Antragsteller umfangreicher medizinischer und therapeutischer Maßnahmen bedarf, so neben einer aus mehreren Präparaten bestehenden Medikation (insbesondere auch einer regelmäßigen Gluccocorticosteroid-Stoßtherapie), sehr dlffererizierter Laboruntersuchungen, der Arthrosonographie, der Abdomensonographie, der ophtalmologischen Kontrollen, Krankengymnastik, Kryotherapie, regelmäßiger Kontrolluntersuchungen etc.. Nach den Angaben im aktuellsten Attest seien die betreffenden Untersuchungen alle vier bzw. sechs, längstens (die ophtalmologischen Kontrollen) alle acht Wochen vorzunehmen.

Davon, dass bei dem Antragsteller bei Behandlung in Bosnien und Herzegowina aufgrund seiner Erkrankungen in größerem Umfang Kosten anfallen würden, die er persönlich tragen müsste, ist unter Berücksichtigung der allgemeinen Auskunftslage sowohl angesichts der Vielzahl der erforderlichen Maßnahmen als auch im Hinblick darauf, dass es sich zum großen Teil nicht um absolut übliche Standardmaßnahmen und Therapien handelt, auszugehen. So liegt z.B. Laboruntersuchungen betreffend eine Auskunft der Deutschen Botschaft in Sarajewo vor, nach der nur ein kleinerer Teil der Kosten von der bosnisch-herzegowinischen Pflichtversicherung übernommen werde (Auskunft vom 11.10.07, GZ: Rk-1-516.50 E).

Auch wird in dem fachärztlichen Attest der Universitätsklinik Tuzla über die dortige Behandlung des Antragstellers vom 21.01.8 bis 24.01.08 ausdrücklich angegeben, die Kosten für die Behandlung des Antragstellers im Heimatland würden größtenteils aus eigenen Mitteln der Eltern finanziert.

Davon, dass der Antragsteller bzw. seine Eltern die Möglichkeit hätten, auf längere Zeit und in ausreichendem Umfang die nicht durch den Staat zur Verfügung gestellten erforderlichen medizinischen oder therapeutischen Leistungen bzw. Medikamente auf eigene Kosten zu finanzieren, ist, wie oben dargelegt, nicht auszugehen.

Daraus würde folgen, dass für den Antragsteller wegen fehlender persönlicher finanzieller Liquidität Heimatland nicht alle von ihm benötigten medizinischen und therapeutischen Maßnahmen und Medikamente verfügbar wären.

Grundsätzlich kann, wenn eine Behandlung ausschließlich an der Finanzierbarkeit oder Verfügbarkeit von Medikamenten scheitern würde, die Möglichkeit bestehen, dass eine Kostenübernahme oder Mitgabe von Medikamenten durch die deutschen Sozialhilfeträger, erfragt durch die zuständige Ausländerbehörde, erfolgt, wobei unter Beachtung eines "alsbaldigen" Gefahreneintritts für die Kostenübernahme ein Zeitraum von grundsätzlich zwei Jahren zu veranschlagen ist. Diese Möglichkeit kann jedoch nur dann bestehen, wenn davon auszugehen ist, dass die erforderliche medizinische Behandlung schon vor Ablauf der zwei Jahre beachtliche (positive) Erfolge zeigt. In die Beurteilung, ob eine solche Möglichkeit besteht, sind also Art der Erkrankung und Schwere der drohenden Gefahr einzubeziehen.

Bei der vorliegenden Erkrankung an juveniler chronischer Polyarthritis handelt es sich, wie oben dargestellt, jedoch nicht um eine Erkrankung, bei der in einem Zeitraum von zwei Jahren zumindest mit einer wesentlichen Besserung zu rechnen wäre. Vielmehr wird ärztlicherseits ausdrücklich angegeben, dass es sich bei dem Antragsteller um ein schwerkrankes Kind handele, das zur Vermeidung schwerer Organschäden für viele Jahre kinderärztliche und insbesondere such kinderrheumatologische Versorgung benötigen werde (fachärztliches Attest des Nordwestdeutschen Rheumazentrums vom 04.06.08, S. 7).

Die Möglichkeit, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch eine zweijährige Kostenübernahme für Medikamente und ggfls. Betreuung zu vermeiden, besteht im vorliegenden Fall daher nicht.

Es ist somit im Hinblick auf den Antragsteller von dem Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG auszugehen.