VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 08.12.2009 - 13 L 1840/09.A - asyl.net: M16284
https://www.asyl.net/rsdb/M16284
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Griechenland für sechs Monate.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin II-VO, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Selbsteintritt, subjektives Recht
Normen: GG Art. 16a Abs. 2, GG Art. 19 Abs. 4, VwGO § 123, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 27a,
Auszüge:

[...]

Der mit der Bestimmung zum sicheren Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2 GG einhergehende Ausschluss des Eilrechtsschutzes erfordert, dass in dem jeweiligen Drittstaat die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - GFK - vom 28. Juli 1951 (BGBl 1953 II S. 560) und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 953) sichergestellt ist. Diese Voraussetzung ist für Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich normiert, gilt aber aufgrund der gebotenen Wertungsgleichheit entsprechend auch für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Für Letztere sind die aus den genannten Regelungen folgenden Verpflichtungen zudem u.a. in der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und in der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten konkretisiert worden.

Die feststellbare Verletzung von Kernanforderungen des vorgenannten europäischen Rechts, die mit einer Gefährdung des Betroffenen insbesondere in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergeht, ist ein weiterer Sonderfall im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (ähnlich Verwaltungsgericht Gießen, Beschluss vom 25. April 2008 - 2 L 201/08.GI.A -, juris; Verwaltungsgericht Weimar, Beschluss vom 24. Juli 2008 - 5 E 20094/08 We -, juris; Verwaltungsgericht Frankfurt/Main, Beschluss vom 11. Januar 2008 - 7 G 3911/07.A -, juris, hinsichtlich der Richtlinie 2005/85/EG.

Ist die Schutzgewährung entsprechend den o.g. europa- und völkerrechtlichen Regelungen in einem Drittstaat oder einem Mitgliedstaat der Europäischen Union trotz deren grundsätzlicher Geltung in der Praxis nicht zumindest im Kern sichergestellt - etwa aufgrund vorübergehender besonderer Umstände in dem betreffenden Staat wie z.B. einen die Kapazitäten deutlich übersteigenden Zugang von Flüchtlingen - ist diese Situation für den Betroffenen von vergleichbarem Gewicht wie der vom Bundesverfassungsgericht angeführte Sonderfall, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26 a AsylVfG hierauf noch aussteht. Dass es sich hier nicht um individuelle, sondern allgemeine Bedingungen im Drittstaat handelt, steht dieser Einschätzung mit Blick auf die Gleichheit der Folgen für den Betroffenen nach Auffassung des erkennenden Gerichts nicht entgegen (a.A. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschlüsse vom 24. Oktober 2008 - 16 L 1654/08.A und 16 L 1657/08. A -).

Im Gegenteil hat das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Praxis in dem jeweiligen Drittstaat lediglich festgestellt, dass (nur) die Berufung auf eine von der allgemeinen Praxis in dem jeweiligen Staat abweichende Handhabung des Einzelfalles oder ein (sonstiges) Fehlverhalten in diesem Zusammenhang nicht angeführt werden könnten (Bundesverfassungsgericht, a.a.O., S. 98/99).

Demgemäß liegt allen vom Bundesverfassungsgericht angeführten Sonderfällen die Zielsetzung zugrunde, dem Asylsuchenden den gebotenen Schutz nicht durch die Rückführung in den Drittstaat zu versagen. Ob dies auf einzelfallbezogenen Erwägungen beruht oder auf den allgemeinen Bedingungen in dem jeweiligen Staat, ist insoweit nicht von maßgeblicher Bedeutung. Dabei kann an dieser Stelle offen bleiben, ob nicht sogar generell wesentliche, für die Schutzgewährung erhebliche Veränderungen der vom Verfassungs- oder Gesetzgeber zu Grunde gelegten Sachlage Umstände sind, die schon ihrer Natur nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung von Verfassung und Recht berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich heraus gesetzt sind. In jedem Fall ist mit Blick auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen der Erlass einer einstweiligen Anordnung auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung von § 34a AsylVfG dann möglich, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dessen nach Art. 1 6a Abs. 2 Satz 1 GG in dem Drittstaat europarechtlich zu gewährleistender Schutz tatsächlich nicht zumindest im Kern sichergestellt ist. Ob dies tatsächlich der Fall ist und welche Folgen dies im Lichte der Regelungen der Art. 16a Abs. 2, §§ 26a, 27a AsylVfG für das Asylbegehren des Betroffenen in Deutschland hat, ist dann im Hauptsacheverfahren zu klären.

Nach diesen Maßstäben liegen hier ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Griechenland nicht an den Standard heranreichen, den der nationale Gesetzgeber bei Einfügung des § 27a AsylVfG mit Wirkung zum 28. August 2007 vor dem Hintergrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. vom 30. September 2004, L 304/12) bei dem EG-Mitgliedstaat, der nach der Dublin II-VO zuständig ist, als gegeben vorausgesetzt hat und - nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2004/83/EG am 10. Oktober 2006 (vgl. deren Art. 38 Abs. 1) - voraussetzen durfte.

Insoweit wird zur näheren Begründung zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die Rechtsprechung der Kammer verwiesen (Beschlüsse der Kammer vom 6. November 2008 - 13 L 1645/08.A -, juris, und vom 22. Dezember 2008 - 13 L 1993/08.A -, juris; ebenso Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 9. April 2009 - 18 L 494/09.A -, n.v.).

Die jüngere Entwicklung in Griechenland führt zu keiner anderen Bewertung. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), dessen Stellungnahmen nach Erwägungsgrund 15 der Richtlinie 2004/83/EG ein besonderes Gewicht zukommt, hat in mehreren Memoranden Rechtsgrundlagen und Praxis griechischer Asylverfahren als unzureichend kritisiert. Zuletzt hat er am 17. Juli 2009 erklärt, sich zukünftig nicht mehr an Asylverfahren in Griechenland zu beteiligen, solange nicht durch strukturelle Änderungen faire und effiziente Asylverfahren garantiert seien. Zur Begründung hat er ausgeführt, er stelle mit großer Sorge fest, dass die durch den neuen Präsidialerlass Nr. 81/2009 vom 30. Juni 2009 mit Wirkung ab dem 20. Juli 2009 eingeführten strukturellen Änderungen die vom internationalen und europäischen Recht geforderte Fairness und Effizienz des Asylverfahrens in Griechenland nicht ausreichend garantierten. Insbesondere sei das - gemeinschaftsrechtlich gebotene - Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht gewährleistet.

Entsprechend haben in jüngerer Zeit sowohl das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, juris) als auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 8 B 1433/09.A -, juris) in vergleichbaren Fällen die Abschiebung der jeweiligen Antragsteller nach Griechenland mit Blick auf die dortige Situation Asylsuchender ausgesetzt. [...]

Die Antragstellerin hat gegenüber der Antragsgegnerin einen Anspruch darauf, dass diese von der ihr in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eingeräumten Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts ermessensfehlerfrei Gebrauch macht. Als unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht bildet die Verordnung eine geeignete Grundlage für die Begründung subjektiver Rechte. Ob Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Ausländern grundsätzlich ein Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gewährt (so Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, § 27a Rdn. 135; Marx, Asylverfahrensgesetz, § 29 Rdn. 51), kann an dieser Stelle offen bleiben. Jedenfalls besteht ein solcher Anspruch dann, wenn die Entscheidung durch nationales Verfassungsrecht, wie z.B. durch Art. 6 Abs. 1 GG, durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG im Falle einer behandlungsbedürftigen Krankheit oder - wie hier - durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG im Hinblick auf den unzureichenden Zugang zum Asylverfahren und die mangelnde Sicherstellung des Lebensunterhalts geprägt wird.

Die Gewährleistung dieses Anspruchs steht nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand des Gerichts in Frage. Die Antragsgegnerin hat nicht erkennen gegeben, dass sie ihre bisherige, dem Gericht bekannte abweichende Bewertung der tatsächlichen Situation in Griechenland und der sich hieraus ergebenden rechtlichen Folgen aufgegeben hätte. Hiervon ausgehend ist der Anspruch der Antragstellerin auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO gefährdet.

Die Antragstellerin hat schließlich auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin hat von ihren Bemühungen um Rückführung der Antragstellerin nach Griechenland bislang noch nicht Abstand genommen. Eine Überstellung nach Griechenland würde den Anspruch der Antragstellerin auf eine ermessensfehlerfrei Entscheidung gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO jedoch zumindest faktisch vereiteln.

Durch die vorliegend befristet erlassene Anordnung erhält die Antragsgegnerin die Möglichkeit, entweder konkrete Garantien Griechenlands für die Antragstellerin dahingehend erwirken, dass dieser bei einer Überstellung umgehend eine Registrierung ihres Asylantrags sowie Informationen unter Hinzuziehung eines anerkannten Dolmetschers und Rechtsbeistand ermöglicht werden, sie in einer angemessenen Unterkunft untergebracht wird und im Bedarfsfall Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung erhält, oder aber von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen. [...]