VG Düsseldorf

Merkliste
Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 27.10.2009 - 22 K 1675/08 - asyl.net: M16286
https://www.asyl.net/rsdb/M16286
Leitsatz:

Zur Rücknahme einer Niederlassungserlaubnis und Ausweisung wegen Scheinehe.

Schlagwörter: Rücknahme, Niederlassungserlaubnis, familiäre Lebensgemeinschaft, Vaterschaft, Vaterschaftsanfechtung, Abstammungsgutachten, Scheinehe, vorsätzliche Täuschung, Ermessen, Erschleichen einer Aufenthaltserlaubnis, Vertrauensschutz, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, außergewöhnliche Härte, Achtung des Privatlebens, Ausweisung, Ausweisungsgrund,
Normen: VwVfG NW § 48 Abs. 1, AufenthG § 26 Abs. 4, GG Art. 6 Abs. 1, BGB § 1592 Nr. 1, BGB § 1599 Abs. 1, AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2, StPO § 153a, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2, GG Art. 2 Abs. 1, EMRK Art. 8, AufenthG § 55 Abs. 1, AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 4. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung vom 28. Januar 2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).

Dies gilt zunächst für die in der angefochtenen Ordnungsverfügung ausgesprochene Rücknahme der dem Kläger erteilten Niederlassungserlaubnis. Dabei kann hier offen bleiben, ob für die Prüfung der Sach- und Rechtslage maßgeblich auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21. November 2001 – Fs 1822/01 –) oder auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen ist (vgl. Zulassung der Revision zur Klärung der Frage, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis maßgeblich ist, Beschluss des BVerwG vom 27. Mai 2009 – 1 B 21/08 –, Juris).

Rechtsgrundlage für die Rücknahme der dem Kläger erteilten Niederlassungserlaubnis ist § 48 Abs. 1 VwVfG NRW. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder auch teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Der angefochtene Rücknahmebescheid entspricht diesen Anforderungen und ist auch sonst rechtmäßig. Die Niederlassungserlaubnis vom 28. September 2005 war rechtswidrig. Dem Kläger stand weder zum Zeitpunkt der Erteilung der zurückgenommenen Niederlassungserlaubnis noch im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides ein Aufenthaltstitel zu; noch ist dies zum derzeitigen Zeitpunkt der Fall.

Die dem Kläger am 28. September 2005 erteilte Niederlassungserlaubnis war rechtswidrig. Sie beruhte auf den dem Kläger am 19. Februar 2003 und 29. Januar 2004 zum Zwecke der Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft gemäß § 31 Abs. 1 AuslG erteilten Aufenthaltsbefugnisse (letztere galt ab dem 1. Januar 2005 als Aufenthaltserlaubnis fort), so dass der Kläger unter Berücksichtigung der Duldungszeiten gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG die zeitlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG erfüllte. Auf Grund dieser Annahme und der weiteren Angaben in dem Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis vom 23. Juni 2005, nach denen die eheliche Lebensgemeinschaft weiter fortbestehe, erteilte die damals zuständige Stadt ... die nach § 26 Abs. 4 AufenthG in ihrem Ermessen stehende Niederlassungserlaubnis. Die Annahme der Stadt ... war jedoch unzutreffend. Zwischen dem Kläger und der – inzwischen von ihm geschiedenen – Ehefrau, hat eine eheliche Lebensgemeinschaft nie bestanden.

Die aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung von Art. 6 Abs. 1 GG knüpft nicht schon an die formal ordnungsgemäß eingegangene Ehe, also an die bloße Tatsache des Verheiratetseins. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob die durch das Institut der Ehe miteinander verbundenen Personen auch der Sache nach in einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Sinne einer die persönliche Verbundenheit der Eheleute zum Ausdruck bringenden Beistandsgemeinschaft leben. Diese eheliche Lebensgemeinschaft dokumentiert sich nach außen im Regelfall in einer gemeinsamen Lebensführung, also in dem erkennbaren Bemühen, die alltäglichen Dinge des Lebens miteinander in organisatorischer, emotionaler und geistiger Verbundenheit zu bewältigen. Kennzeichnend dafür ist ein gemeinsamer Lebensmittelpunkt, der im allgemeinen durch eine gemeinsame Wohnung zum Ausdruck kommen wird. Leben die Eheleute räumlich getrennt, so bedarf es zusätzlicher Anhaltspunkte, um gleichwohl eine eheliche Lebensgemeinschaft annehmen zu können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2002 – 2 BvR 231/00 , InfAuslR 2002, 171; BVerwG, Urteile vom 27. Januar 1998 – 1 C 28.96 – und vom 9. Dezember 1997 – 1 C 16.96 –, Juris; OVG NRW, Beschluss 3. August 2006 – 18 B 1298/06 , www.nrwe.de = Juris m.w.N.).

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger eine derartig von Art. 6 GG geschützte eheliche Lebensgemeinschaft nach seinem Umzug Mitte August 2002 in die ... nicht mit seiner seit April 2009 geschiedenen Ehefrau geführt hat. Vielmehr hat die geschiedene Ehefrau, von der sich der Kläger nach seinen Angaben Ende 2005/Anfang 2006 getrennt hat, durchgängig mit dem Zeugen X, ihrer Tochter U und dem 21. Mai 2003 geborenen Kind D in der ... gewohnt und zusammengelebt. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere der Vernehmung des Zeugen X, den Aussagen des Klägers im Rahmen der Befragung des Gerichts in der mündlichen Verhandlung sowie dem Inhalt der Verwaltungsvorgänge und der Gerichtsakten fest. Diese Feststellungen werden durch das Urteil des Amtsgerichts ... vom 16. Oktober 2007 erhärtet. [...]

Es sprechen überwiegende Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge X Vater des Kindes ist. Zwar ist der Kläger nach wie vor gemäß § 1592 Nr. 1 BGB gesetzlicher Vater des Kindes, weil es (bisher) an einer rechtskräftigen Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft fehlt (§ 1599 Abs. 1 BGB). Nach dem in dem Vaterschaftsanfechtungsverfahren des Kindes gegen den Kläger erstatteten Abstammungsgutachten vom 23. Oktober 2009 ist die Vaterschaft des Klägers an dem Kind D jedoch "offenbar unmöglich". Demgegenüber hat der Zeuge X ein privates Gutachten erstellen lassen. Nach diesem Gutachten vom 26. März 2007 ist die Vaterschaft des Zeugen praktisch erwiesen. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass nicht der Kläger nach seiner Eheschließung im Juli 2002 und dem angeblichen gemeinsamen Umzug Mitte August 2002 in die I3straße eine eheliche Lebensgemeinschaft geführt hat , sondern der Zeuge X. [...]

Diese Überzeugung des Gerichts wird durch das Urteil des Amtsgerichts ... vom 16. Oktober 2007 bestätigt. Nach den Feststellungen des Urteils, die im wesentlichen auf der Vernehmung der im Hause ... wohnenden Vermieterin, Frau V sowie der Nachbarin des Klägers in der Wohnung ... als Zeuginnen beruhen, haben der Kläger und seine Ehefrau zu keinem Zeitpunkt eine eheliche Lebensgemeinschaft in ... geführt. Vielmehr hat der Kläger ausschließlich allein in der ...straße und die Ehefrau in eheähnlicher Gemeinschaft mit dem Zeugen X sowie den beiden Kindern gelebt. Zwar ist nur die geschiedene Ehefrau des Klägers wegen eines Vergehens gemäß § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verurteilt worden, weil sie gegenüber der Ausländerbehörde falsche Angaben gemacht hat um dem Kläger einen Aufenthaltstitel zu verschaffen, und das Verfahren gegen den Kläger gemäß § 153 a StPO eingestellt worden. Dies steht jedoch der Überzeugung des Gerichts, dass auch der Kläger gegenüber der Ausländerbehörde ... wahrheitswidrig erklärt hat, in ehelicher Lebensgemeinschaft mit seiner geschiedenen Ehefrau zu leben, nicht entgegen. Abgesehen davon, dass weder die Ausländerbehörde noch das Gericht an die strafprozessuale Entscheidung gebunden ist, setzt eine Verfahrenseinstellung nach § 153 a Abs. 1 Satz 1 letzter Absatz StPO die Erfüllung des Tatbestandes voraus.

Hat der Kläger somit zu keinem Zeitpunkt in familiärer Lebensgemeinschaft mit seiner (inzwischen geschiedenen) Ehefrau gelebt, hat er die Ausländerbehörde der Stadt I2 arglistig getäuscht und so die Erteilung der Aufenthaltsbefugnisse am 19. Februar 2003 und 29. Januar 2004 sowie die auf diesen Täuschungshandlungen beruhende Erteilung der Niederlassungserlaubnis am 28. September 2005 bewirkt. Denn die Erteilung der Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG steht, soweit die zeitlichen Voraussetzungen erfüllt sind, im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde. Wäre der Ausländerbehörde der Stadt I2 bekannt gewesen, dass der Kläger nie in einer ehelichen Lebensgemeinschaft gelebt hat und sich damit den Aufenthaltstitel durch unrichtige Angaben erschlichen hat, wäre die Ermessensentscheidung zu Lasten des Klägers ausgefallen. Dies ergibt sich auch aus den Ermittlungen, die die Stadt ... Anfang des Jahres 2006 zur Prüfung der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis eingeleitet hat, nachdem der Verdacht aufgetaucht war, dass der Kläger nie mit seiner Ehefrau in ehelicher Lebensgemeinschaft gelebt hat. Die dem Kläger am 28. September 2005 erteilte Niederlassungserlaubnis war daher rechtswidrig.

Liegen somit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 VwVfG NRW vor, liegt die Rücknahmeentscheidung im Ermessen der Behörde, das vom Gericht gemäß § 114 Satz 1 VwGO nur eingeschränkt darauf geprüft werden kann, ob der Beklagte und die Widerspruchsbehörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten haben (vgl. § 40 VwVfG NRW). Diese Prüfung lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Der Beklagte und die Widerspruchsbehörde haben die für und gegen die Rücknahme sprechenden Gesichtspunkte des privaten Interesses des Klägers und etwaiger Angehöriger (vgl. entsprechend § 55 Abs. 3 AufenthG) in dem Blick genommen und gegen die öffentlichen Interessen abgewogen. Insbesondere sind Vertrauensschutzgesichtspunkte zu Gunsten des Klägers auf Grund der bewussten Täuschungshandlungen hinsichtlich des Vorliegens einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft nicht erkennbar. Denn der langjährige Aufenthalt des Klägers beruhte seit Mitte des Jahres 2002 ausweislich der Verwaltungsakten auf den von ihm gemachten mehrjährigen wahrheitswidrigen Erklärungen über das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft. Vor diesem Hintergrund konnte der Kläger von dem Entstehen einer rechtmäßigen Verfestigung seines Aufenthalts und eines Vertrauenstatbestands offensichtlich nicht ausgehen, vielmehr ist die Durchsetzung des AufenthG und der Ausreisepflicht des Klägers erforderlich und angemessen (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. September 2003 – 1 C 6.03 -, BVerfG 119, 17 = NVwZ 2004, 487, und vom 12. April 2005 aaO; OVG NRW, Beschlüsse vom 1. Juli 2005 – 18 B 677/05 – und vom 14. Dezember 2005 – 18 B 1237/05 –).

Auch im Übrigen lässt die Entscheidung Ermessensfehler nicht erkennen.

Dem Kläger war weder zum Zeitpunkt der Erteilung der zurückgenommenen Niederlassungserlaubnis eine Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Aufenthaltszweck zu erteilen noch ist dies zum derzeitigen Zeitpunkt der Fall.

Der Kläger hat zunächst keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach den – im Rahmen des § 25 AufenthG – ausschließlich in Betracht kommenden Regelungen des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG sowie § 25 Abs. 5 AufenthG. [...]

Gemessen an diesen Voraussetzungen stellt ein Verlassen des Bundesgebiets für den Kläger keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz AufenthG dar. Einen gesteigerten Schutz seines Privatlebens im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK kann der Kläger nicht für sich in Anspruch nehmen. Der Kläger ist im Alter von 30 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland aus Vietnam eingereist. Er hat seine prägende Sozialisation in seinem Heimatstaat erhalten. Zwar hält der Kläger sich nunmehr seit gut 16 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland auf. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Aufenthalt seit Mitte 2002 durch arglistige Täuschung erschlichen wurde, so dass sich die Zeitdauer des so erlangten Aufenthalts nicht zu seinen Gunsten auswirken kann. Zudem hat der Kläger, der keine familiären Bindungen in Deutschland hat, über seine Erwerbstätigkeit hinaus nichts vorgetragen, was für eine soziale und sprachliche Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse sprechen könnte. Auch ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass dem Kläger, der nach wie vor die vietnamesische Sprache spricht, ein Leben im Staate seiner Staatsangehörigkeit nicht zugemutet werden könnte. [...]

Die in der angegriffenen Ordnungsverfügung ausgesprochene Ausweisung erweist sich auch im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts als rechtmäßig. Die Ausweisung findet ihre rechtliche Grundlage in § 55 Abs. 1, 2 Nr. 2 AufenthG. Der Kläger hat durch die wiederholten Angaben gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt ..., er lebe mit seiner Ehefrau in familiärer Lebensgemeinschaft, Täuschungshandlungen über seinen Familienstand begannen und damit unrichtige Angaben gemacht ,um für sich einen Aufenthaltstitel zu erschleichen, einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen nämlich gegen die Strafvorschrift des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG, und dadurch den Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt. Die nach dem Vorliegen eines Ausweisungsgrundes vom Beklagten und der Widerspruchsbehörde getroffene Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Beklagte und die Widerspruchsbehörde haben sich gemäß § 40 VwVfG NRW an den ordnungsrechtlichen Zweck der Ermächtigungsgrundlage orientiert, die gesetzlichen Grenzen des Ermessen eingehalten und bei der Ermessensentscheidung insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG genannten Gesichtspunkte hinreichend berücksichtigt. Zu Recht haben sie dabei schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Bindungen des Klägers verneint. [...]