VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 22.10.2009 - 8 K 960/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 41 ff.] - asyl.net: M16287
https://www.asyl.net/rsdb/M16287
Leitsatz:

1. Die Ausweisung ist rechtswidrig, da bei der Interessensabwägung die Wertungen des Art. 8 EMRK in der Ausprägung der neueren Rechtsprechung des EGMR nicht hinreichend einbezogen worden sind.

2. Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist rechtmäßig, da der Kläger in Strafhaft seinen Lebensunterhalt nicht sichern kann.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Ausweisung, Resozialisierung, notwendig in einer demokratischen Gesellschaft, Verhältnismäßigkeit, junger Erwachsener, Maslov II, Kindeswohl,
Normen: EMRK Art. 8, AufenthG § 54 Nr. 1, AufenthG § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, AufenthG § 8 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Im Zusammenhang mit Straftaten eines Ausländers, der ein junger Erwachsener ist, der noch keine eigene Familie gegründet hat, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Kriterien für eine Feststellung von Umständen, nach denen eine Ausweisungsmaßnahme (im Sinne der EMRK) in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig und gegenüber dem verfolgten Ziel nicht verhältnismäßig ist und nach denen die Maßnahme damit eine Verletzung des Art. 8 der Konvention darstellt, angeführt:

- die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat;

- die Dauer des Aufenthalts des Ausländers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;

- die zwischen der Begehung der Delikte vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers in dieser Phase und

- die sozialen, kulturellen und familiären Beziehungen zum Gaststaat und zum Zielstaat der Abschiebung.

Zur Rechtfertigung der Aufenthaltsbeendigung eines sich rechtmäßig im Gastland aufhaltenden Ausländers, der seine gesamte Kindheit und Jugend oder den größten Teil davon im Gastland verbracht hat, müssen sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden. Dies gilt umso mehr, wenn der Ausländer die zur Ausweisung führenden Straftaten als Jugendlicher begangen hat (EGMR - Große Kammer -, Urteil vom 23. Juni 2008 - 1638/03 - [Maslov II], InfAuslR 2008, S. 333; vgl. zu Art. 8 EMRK auch BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 -, www.bverfg.de, Rn. 32 ff. = InfAuslR 2007, 275 = ZAR 2007, 243 = AuAS 2007, 242, das von Gründen überragenden Gewichts spricht).

Solche sehr gewichtigen Gründe müssen bestehen, wenn in das Recht des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK eingegriffen wird. Der noch 19-jährige ledige Kläger hat sich im Sinne der EMRK rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Der Beklagte erteilte ihm seit Sommer 2000 durchgehend Aufenthaltstitel. Der zwei Wochen nach Ablauf der letzten Aufenthaltserlaubnis gestellte Verlängerungsantrag begründete ein weiterhin bis Mai 2009 bestehendes Aufenthaltsrecht (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Der Kläger hielt sich auch fast sein gesamtes Leben im Bundesgebiet auf. Er hatte bisher mit Ausnahme seiner Staatsangehörigkeit keine Verbindungen zu seinem Herkunftsland.

Bei Anwendung der Maßstäbe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts liegen keine derart sehr gewichtigen Gründe für einen Eingriff in das Recht des Klägers vor, die die vom Beklagten beabsichtigte Durchsetzung der als solches legitimen öffentlichen Interessen als notwendig erscheinen lassen. Die unter Einbeziehung einer früher verhängten Strafe erfolgte Verurteilung des Klägers zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren begründet bei Mitberücksichtigung der sonstigen Tat- und Lebensumstände keinen sehr gewichtigen Grund in diesem Sinne (wegen einer zweijährigen Einheitsjugendstrafe ebenso VG Münster, Urteil vom 29. Oktober 2008 - 8 K 860/07 -; vor Veröffentlichung der "Maslov II - Entscheidung" noch anders Beschluss vom 16. Juli 2008 - 8 L 288/08 -, www.nrwe.de). Für die Ausweisung eines sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden Einwanderers aufgrund von nicht gewalttätigen, als Minderjähriger begangener Straftaten besteht wenig Raum (EGMR - Große Kammer -, Urteil vom 23. Juni 2008 - 1638/03 - [Maslov II] -, a.a.O., S. 334). [...]

Wenn einem Eingriff in das Recht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK von einem minderjährigen begangene Straftaten zugrunde liegen, besteht nach den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache "Maslov II" die Verpflichtung, den legitimen öffentlichen Interessen der Einwanderungskontrolle und Verhütung weiterer Straftaten das öffentliche Interesse an der Beachtung des Kindeswohls gegenüber zu stellen. Dies schließt die Pflicht ein, die Resozialisierung zu erleichtern. Die Verpflichtung zur Beachtung des Kindeswohls gilt nicht nur während der Minderjährigkeit, sondern auch dann, wenn der Grund einer Ausweisung (im Sinne des Sprachgebrauchs der Konvention) in Straftaten liegt, die die betroffene Person als Minderjähriger begangen hat. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird dieses Ziel nicht erreicht, indem im Aufnahmestaat bestehende familiäre und/oder soziale Beziehungen getrennt werden.

Danach ist die Prognose einer Resozialisierung des Klägers im Falle seiner Abschiebung in sein Herkunftsland schlechter. Der Kläger hat seine wesentlichen verwandtschaftlichen Verbindungen in Deutschland. Die Familie, in die er nach einer Haftentlassung aufgenommen werden soll, hält sich berechtigt im Bundesgebiet auf. Es ist ihr nicht zuzumuten, zur Unterstützung der Resozialisierung eines Neffen in das gemeinsame Herkunftsland auszureisen. Zudem genießt der Kläger hier die ehrenamtliche Unterstützung eines "Aktionskreises". Hält sich die für eine Resozialisierung förderliche Verwandtschaft des Klägers in Deutschland auf, ohne dass deren Ausreise absehbar ist, wird die Resozialisierungsprognose für den Kläger zusätzlich verschlechtert, wenn nach den Angaben des Beklagten in der mündlichen Verhandlung einer der Mittäter, mit denen der Kläger die früheren Straftaten beging, in das Herkunftsland des Klägers abgeschoben ist. Demgegenüber hat der Kläger keine seine Resozialisierung derart fördernden Verwandten und Bekannten im Herkunftsland. Dass der in den Kosovo abgeschobene Onkel willens und in der Lage ist, den Kläger in auch nur ähnlicher Art zu unterstützen, ist nicht festzustellen.

In der Sache ist die Prognose einer Resozialisierung des Klägers zwar nicht zwingend positiv. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung zu Recht darauf verwiesen, dass selbst der Leiter der Justizvollzugsanstalt in der Stellungnahme vom 15. Oktober 2009 wegen seiner Sozialprognose Bedenken und Bedingungen anführt. Eine von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angesprochene Förderung der Resozialisierung ist jedoch auf jeden Fall mit der angestrebten Unterstützung im Bundesgebiet gegeben. Im Vergleich dazu fördert eine Abschiebung des Klägers in sein Herkunftsland nicht dessen Resozialisierung. Zudem besteht Grund zu der Annahme, dass der vom Beklagten abgebrochene Abschiebeversuch auf den Kläger derart einwirkt, dass eine Zäsur in seinem Lebenslauf nicht ausgeschlossen werden kann.

Schließlich macht es im Rahmen der Abwägung einen Unterschied, dass der Kläger sich bereits seit seiner frühen Kindheit im Bundesgebiet aufhält und nicht erst als Erwachsener eingewandert ist. Diese besondere Situation muss nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigt werden.

II. Bei Mitberücksichtigung der angeführten Rechtslage nach Art. 8 EMRK ist die in dem angefochtenen Bescheid zu 1. nach §§ 54 Nr. 1, 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG verfügte Ausweisung auf Grund nationalen Rechts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Das öffentliche Interesse an der Erhaltung von Sicherheit und Ordnung hat im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Klägers kein deutliches Übergewicht (§ 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG), wenn die Wertungen des Art. 8 EMRK in der Ausprägung der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die Abwägung einbezogen werden. Die nach übereinstimmender Auffassung erforderliche Ermessensentscheidung des Beklagten (§ 56 Abs. 1 S. 5 AufenthG) ist rechtswidrig, weil sie mit den unter I. ausgeführten Anforderungen des Art. 8 EMRK nicht übereinstimmt.

III. Die in dem Bescheid zu 2. enthaltene Entscheidung des Beklagten, den Antrag des Klägers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abzulehnen, ist dagegen rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis oder auf eine Neubescheidung.

Der Kläger erfüllt - jedenfalls - nicht die Verlängerungsvoraussetzung der §§ 8 Abs. 1, 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Der Lebensunterhalt des Klägers ist nicht gesichert. [...]

Die Haftsituation begründet keine solche Ausnahme. Der Kläger kann zwar seinen Lebensunterhalt infolge der Freiheitsentziehung nicht durch Arbeitseinkünfte sichern. Der Feststellung einer Ausnahmesituation steht jedoch entgegen, dass der Kläger die Vollstreckung der Freiheitsstrafe und damit eine fehlende Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme durch eigenes schuldhaftes Verhalten verursacht hat. Die Ursachenkette wird nicht durch die späteren Entscheidungen des Strafgerichts unterbrochen.

Durch Art. 8 EMRK ist in diesem Einzelfall ebenfalls keine Ausnahme geboten. Der Gesetzgeber bringt mit § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zum Ausdruck, dass die Sicherung des Lebensunterhalts bei der Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln im Ausländerrecht als eine Voraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse anzusehen ist. Ausnahmen von der vom Gesetzgeber aufgestellten Regel sind daher grundsätzlich eng auszulegen (BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 3.08 -, www.bverwg.de = InfAuslR 2009, 330 = NVwZ 2009, 1239). Die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts des Klägers beruht aber nicht auf dem - durch Art. 8 EMRK derzeit geschützten - Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet. Ursache der fehlenden Sicherung des Lebensunterhalts ist ausschließlich der Umstand der Strafvollstreckung.

Ein Recht des Klägers aus Art. 8 EMRK begründet auch nicht einen Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne § 4 Abs. 1 S. 2 AufenthG. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist nicht die Entscheidung über eine Aufenthaltsbeendigung, sondern eine tatsächliche Abschiebung auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention zu prüfen (EGMR - Große Kammer -, Urteil vom 23. Juni 2008 - 1638/03 - [Maslov II], InfAuslR 2008, S. 333, 335). Das Recht aus Art. 8 EMRK gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Die zuständigen Behörden und Gerichte haben bei ausländerrechtlichen Entscheidungen zwar deren Auswirkungen auf das Privatleben des Betroffenen zu beachten (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 -, InfAuslR 2009, 270). Die Konvention enthält aber keine Vorgaben zur Art und Weise, wie die Vertragsstaaten eine effektive Durchführung der Konvention in ihrem innerstaatlichen Recht sicherstellen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Blick auf die Fallgruppe der Abschiebung von Ausländern wiederholt entschieden, dass ein Ausländer nicht geltend machen kann, dass "Opfer" (Art. 34 EMRK) einer Abschiebungsentscheidung zu sein, wenn diese nicht vollziehbar ist (EGMR - Große Kammer - , Urteil vom 15. Januar 2007 - 60654/00 -, InfAuslR 2007, 140, 141 = NVwZ 2008, 979). So liegt der Fall auch hier. Der Kläger darf aufgrund nationalen Rechts nicht abgeschoben werden. Gemäß § 60 a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist eine Abschiebung des Klägers rechtlich unmöglich, solange der Kläger das Recht aus Art. 8 EMRK genießt.

Soweit das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. Januar 2007 - 60654/00 - in deutscher Sprache übersetzt/intepretiert wird, Art. 8 EMRK könne nicht dahin ausgelegt werden, dass er ein Recht auf Erteilung "eines bestimmten Aufenthaltstitels" umfasst (InfAuslR 2007, 140, 141) oder "einen besonderen Aufenthaltstitel" garantiert (NVwZ 2008, 979, 981), begründet die sprachliche Auslegung des Urteils nicht eine Vorgabe, dass zwar kein bestimmter, aber doch ein Aufenthaltstitel (im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 AufenthG) erteilt werden muss, wenn ein Recht aus Art. 8 EMRK besteht. Mit dem Begriff "particular type of residence permit" bzw. "type particulier de titre de séjour" (vgl. die unter cmiskp.echr.coe.int durch den Gerichtshof in englischer und französischer Sprache veröffentlichten Urteilsfassungen) begründet die Entscheidung nicht eine Differenzierung im Sinne des nationalen deutschen Rechts zwischen Aufenthaltstitel und Duldung. Unter anderem die Entscheidung in der Sache "Maslov II", wonach (nur) eine tatsächliche Abschiebung auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention zu prüfen ist, steht einer Auslegung entgegen, dass Art. 8 EMRK ein Recht auf einen Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 AufenthG begründe. In Übereinstimmung damit wird in den deutschen Übersetzungen der Entscheidung des EGMR vom 13. Oktober 2005 - 40932/02 - auch eine "Duldung" als Titel bezeichnet (vgl. unter www.coe.int die durch das Bundesministerium der Justiz aus dem Französischen erfolgte nichtamtliche Übersetzung sowie die Dokumentation in deutscher Sprache bei juris, Rn. 66).

Für ein Absehen von der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (§ 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG) daneben bestehende Gründe sind nicht dargetan oder sonst ersichtlich, wenn der Lebensunterhalt infolge selbstverursachter Strafhaft nicht gesichert ist. Dementsprechend hat der Beklagte sachgerecht sein Ermessen hilfsweise ausgeübt (Seite 7, 1. Absatz des Bescheids).

IV. Hat der Kläger keinen Anspruch auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, sind die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ebenfalls rechtmäßig. Entgegenstehende Gesichtspunkte sind vom Kläger auch nicht geltend gemacht. [...]