VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 21.09.2009 - 5 K 1342/07.A - asyl.net: M16293
https://www.asyl.net/rsdb/M16293
Leitsatz:

Aufhebung eines Widerrufsbescheids, da in Togo keine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse mit der Folge hinreichender Sicherheit vor erneuter Verfolgung anzunehmen ist.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Togo, Exilpolitik, Wegfall der Umstände
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Bst. e, GFK Art. 1 C Nr. 5
Auszüge:

[...]

Der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung kommt demnach nur dann in Betracht, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass dieser ohne Verfolgungsfurcht heimkehren kann.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der vorliegend widerrufene Bescheid des Bundesamtes vom 18. Juli 2000 aufgrund des rechtskräftigen Urteils des VG Schwerin vom 30. Mai 2000 ergangen ist. In diesem Urteil wird die exilpolitische Betätigung der Klägerin als exponiert und eine Rückkehrgefährdung als gegeben angesehen. Beruht der Bundesamtsbescheid, der hinsichtlich seiner Widerrufsvoraussetzungen überprüft wird, auf einem rechtskräftigen Urteil, hindert aber die Rechtskraft dieser Entscheidung bei unveränderter Sachlage eine Widerrufsentscheidung. Die Widerrufsregelungen des § 73 AsylVfG befreien nicht von der Rechtskraftbindung nach § 121 VwGO, sondern setzten vielmehr voraus, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung einem Widerruf nicht entgegensteht. Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet erst, wenn eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage entscheidungserheblich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. September 2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118).

Im Asylrecht ist dies nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue, für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist.

Dies vermag die Kammer im vorliegenden Fall nicht festzustellen. Die Entwicklung der allgemeinen politischen Lage und der Menschenrechtssituation in Togo stellt sich zusammengefasst aus Sicht der Kammer nach Auswertung der hierzu vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel wie folgt dar:

Nach dem Tod des seit 1967 diktatorisch herrschenden Staatspräsidenten Gnassingbé Eyadèma im Jahr 2005 setzte das Militär verfassungswidrig dessen Sohn Faure Gnassingbé als Nachfolger ein und bestimmte Präsidentschaftswahlen für den 24. April 2005. Aufgrund von Unregelmäßigkeiten vor und während der Präsidentschaftswahlen kam es nach der Bekanntgabe des vorläufigen Endergebnisses am 26. April 2005, wonach der Sohn des Diktators obsiegt haben sollte, zu erheblichen Unruhen in Lomé, die sich auf weitere größere Städte und ländliche Regionen ausbreiteten. Es kam zu einer massiven Unterdrückung durch Militär und Polizei. Die Sicherheitskräfte setzten scharfe Munition ein. Der Regierungspartei "Rassemblement du Peuple Togolais" - RPT - nahe stehende Schlägergruppen benutzten mit Nägeln bewehrte Holzknüppel. Mehrere hundert Personen sollen getötet worden sein, Tausende verletzt. Als Folge der Unruhen flohen über 40.000 Togoer in die Nachbarländer Benin und Ghana (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Togo (Lagebericht) vom 29. Januar 2008 (Stand: Dezember 2007), S. 4 ff.).

Angesichts der nicht zuletzt aufgrund dieser Ereignisse in der Folgezeit weiter fortschreitenden internationalen Isolierung Togos und verschärften politischen Drucks insbesondere seitens der Europäischen Union begann Präsident Faure im Frühjahr 2006 einen "nationalen Dialog" mit den Oppositionsparteien, der im September 2006 in ene unter Beteiligung von Oppositionsparteien gebildete "Regierung der nationalen Einheit" unter Führung des Oppositionspolitikers Agboyibo vom "Comité d'Action pour le Renouveau" - CAR - mündete. Ein wesentliches Ziel des "nationalen Dialoges" war die Durchführung international anerkannter Wahlen zum Parlament im Jahr 2007. Nach der schließlich am 14. Oktober 2007 durchgeführten und überwiegend friedlich verlaufenen Parlamentswahl, aus der die RPT mit absoluter Mehrheit als Sieger hervorging, ist eine Regierungsneubildung unter dem Präsidenten Faure Gnassingbé erfolgt, allerdings ohne Beteiligung der im Parlament weiter vertretenen Parteien "Union des Forces pour le Changement" - UFC - und des CAR. Die zunächst angestrebte Allparteienregierung ist damit nicht zustande gekommen (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29. Januar 2008, S. 4, und vom 2. Juni 2009 (Stand: April 2009), S. 5; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Togo: Mitgliedschaft bei der UFC, Auskunft vom 18. Mai 2009, S. 3; U.S. Departement of State, Human Rights Report 2008, Bericht vom 25. Februar 2009; Farida Traoré, Die Lage in Togo - Menschenrechte, Justizsystem und Sicherheit, Bericht vom 9. April 2008, S. 5 f.).

Ob die international anerkannten und "im Allgemeinen" als frei, fair und transparent bezeichneten Wahlen tatsächlich demokratischen Anforderungen genügten, ist nicht unumstritten. Die UFC sprach - als Wahlverlierer - von Unregelmäßigkeiten während der Wahlen und zweifelte das Wahlergebnis an. Die unabhängige nationale Wahlkommission "Commission électorale nationale indépendante" - CENI - gab u.a. an, dass tatsächlich mehr als 300 von 750 Wahlboxen nicht ordnungsgemäß versiegelt gewesen seien (vgl. SFH, Auskunft vom 18. Mai 2009, S. 3 f., berichtet zudem von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und UFC-Aktivisten im Oktober 2007; Traoré, Bericht vom 9. April 2008, S. 5, bezweifelt ausdrücklich, dass das Wahlergebnis den Volkswillen widerspiegelt; das U.S. Departement of State spricht in seinem Bericht vom 25. Februar 2009 von "... partial inability of Citizens to change their government...").

Die Wahlen stellen unverkennbar einen Schritt in die "richtige Richtung" dar, aber noch nicht den erkennbaren Abschluss einer Wandlung von einer Diktatur in eine Demokratie. Die Machtstrukturen des früheren Unrechtsstaates sind hinsichtlich wesentlicher Eckpfeiler des Staatsgebildes bis heute vielmehr nahezu unverändert geblieben. Die frühere Einheitspartei RPT ist nach wie vor - zwar nicht alleine, jedoch mit absoluter Mehrheit - an der Macht. Der im Jahr 2005 verfassungswidrig und unter - blutigen - Protesten der Bevölkerung eingesetzte Präsident Faure ist immer noch im Amt. Neuwahlen sind derzeit für Februar 2010 vorgesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. Juni 2009, S. 5).

Die Mitglieder des einflussreichen Verfassungsgerichtes wurden vom Parlament gewählt, als es noch zu 100 % aus Mitgliedern der RPT bestand. Die Unabhängigkeit dieses Gerichts, das in er Vergangenheit stets regimetreu agierte, ist damit weiterhin nicht gewährleistet (vgl. Traoré, a.a.O., S. 9 f.).

Die Institutionen des Staates (Justiz, Ordnungskräfte, Militär) wie auch die politischen Parteien werden insgesamt als schwach, unter der Diktatur verkümmert und demokratisch unerfahren eingeschätzt (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29. Januar 2008, S. 4., und vom 2. Juni 2009, S. 5 f.; Traoré, a.a.O., S. 8 ff.).

Auch sind die Machtverhältnisse in ethnischer Hinsicht nach wie vor ausgesprochen ungleich verteilt und verfestigt. Die ethnischen Gruppen aus den südlichen Gebieten Togos sind in Regierung und Militär unterrepräsentiert. So entstammen etwa 75 % bis 80 % der Armee-Offiziere und Soldaten der Ethnie der Kabyé, der auch die Präsidentenfamilie angehört. Die Kabyé stellen aber nur ca. 15 % bis 25 % der Bevölkerung. Gerade das aus diesem Ungleichgewicht und aus den negativen Erfahrungen der Vergangenheit resultierende sehr angespannte Verhältnis zwischen Zivilbevölkerung und Militär, das durch die jüngste Entwicklung bislang nicht entschärft worden ist, wird von einigen Beobachtern als entscheidendes Problem auf dem Weg zu einer dauerhaften Befriedung Togos gesehen (vgl. U.S. Department of State, a. a. O.; Traoré, a.a.O., S. 6 f.; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 29. Januar 2008, S. 6, und vom 2. Juni 2009, S. 6).

Ungeachtet des Drucks aus dem In- und Ausland herrscht in Togo zudem offenbar weiter ein Klima der Straflosigkeit. Im März 2006 erklärte der damalige Ministerpräsident Edem Kodjo, er habe Polizei und Justiz angewiesen, sämtliche Anklagen gegen die mutmaßlich Verantwortlichen für Übergriffe zurückzuziehen, die in direktem Zusammenhang mit den Wahlen im Jahr 2005 verübt worden waren. Dies gelte jedoch nicht für Personen, die des Mordes verdächtigt seien (vgl. amnesty international, Jahresbericht vom 24. Mai 2007).

Tatsächlich konnte nicht festgestellt werden, dass jedenfalls bei Tötungsdelikten aus dem Jahr 2005 Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden sind. Eine Aufarbeitung der Gewaltverbrechen aus dem Jahr 2005 ist vielmehr bis heute nicht erfolgt und wohl auch nicht mehr zu erwarten (vgl. U.S. Department of State, a.a.O.; Traoré, a.a.O., S. 5 und 15; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. Juni 2009, S. 4; amnesty international, Jahresberichte vom 28. Mai 2008 und vom 28. Mai 2009).

Vor diesem Hintergrund kann allein eine Wahl bei dem kurzen Zeitraum, der nach jahrzehntelanger Diktatur seit dem Tod des Diktators erst vergangen ist, eine erhebliche, nicht nur vorübergehende Änderung der politischen Verhältnisse und einen gesicherten Übergang zu demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen nicht belegen. Ein Richtungswechsel hätte aus der Wahl zum gegenwärtigen Zeitpunkt allein dann abgeleitet werden können, wenn die Oppositionsparteien obsiegt hätten und die RPT sowie das Militär eine Machtübernahme auch faktisch zugelassen hätten. Durch die Bildung einer Alleinregierung der RPT bedarf es nun eines längeren Zeitraums, währenddessen zu beobachten ist, wie nunmehr mit der politischen Opposition umgegangen werden wird. Die derzeitige Labilität der politischen Strukturen wird verstärkt durch die innerhalb der Regierungspartei und auch der Präsidentenfamilie bestehenden Meinungsverschiedenheiten über den einzuschlagenden Kurs und die Regierungspolitik. Hier stehen die Befürworter der Reformpolitik Faures den Konservativen innerhalb der Familie gegenüber, die von Faures Halbbruder Kpatcha Gnassingbé repräsentiert werden. Gerade diesem wird zurzeit vorgeworfen, im Frühjahr 2009 einen Staatsstreich gegen Faure vorbereitet zu haben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. Juni 2009, S. 4 und 6.; Traoré, a.a.O., S. 4, spricht von "verfeindeten Brüdern" und einer "extrem gespannten Beziehung" zwischen Faure und Kpatcha).

Die Menschenrechtslage in Togo wird überdies auch weiterhin von einigen Auskunftsstellen als ernst bewertet (vgl. U.S. Department of State, a.a.O.: "... serious human rights problems continued ..."; SFH, a.a.O., S. 4 ff.; Traoré, a.a.O., S. 12; amnesty international, Jahresbericht vom 28. Mai 2009).

Am 27. April 2009 wurden beispielsweise Mitglieder der UFC, die den 49. Unabhängigkeitstag Togos durch einen friedlichen Marsch begehen wollten, vom Militär mit Tränengas vertrieben (vgl. SFH, a.a.O., S. 6).

Im Jahr 2008 verhängte die oberste Medienkontrollbehörde des Landes, die "Haute autorité de l'audiovisuel et de la communication" - HAAC - mehrfach gegen kritische Radiosender und Journalisten Betätigungsverbote (vgl. amnesty international, Jahresbericht vom 28. Mai 2009).

Auch der mysteriöse und bis heute nicht aufgeklärte Tod des ehemaligen togoischen Informationsministers und Leiters der politischen Abteilung der UFC-nahen Organisation für Afrikanische Einheit, Atsutsé Kokouvi Agboli, am 15. August 2008, wirft Fragen auf, weil er möglicherweise im Zusammenhang steht mit einem regimekritischen Interview Agbolis vom 29. Juli 2008 (vgl. SFH, a.a.O., S. 6; amnesty international, Jahresbericht vom 28. Mai 2009; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. Juni 2009, S. 5).

Nach dem eingangs dargestellten Beurteilungsmaßstab ist es daher bei dieser Sachlage, die noch nicht von Stabilität und festen demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen gekennzeichnet ist, ungeachtet der aufgezeigten und unbestreitbaren positiven Ansätze, zu denen auch die im Juni 2009 erfolgte Abschaffung der Todesstrafe zu zählen ist (vgl. Neue Züricher Zeitung (NZZ) vom 25. Juni 2009 "Togo schafft die Todesstrafe ab"), bis zur Annahme einer echten Konsolidierung der demokratischen Strukturen in Togo erforderlich, den Demokratisierungsprozess in Togo noch über einen weiteren Zeitraum zu beobachten (vgl. hierzu u.a. VG Stuttgart, Urteile vom 12. Mai 2009 - A 5 K 2885/08 - und vom 16. September 2008 - A 5 K 3975/07 -; VG Hannover, Gerichtsbescheid vom 18. Februar 2009 - 4 A 4355/08 -; VG Hamburg, Urteil vom 19. Februar 2009 - 20 A 472/08 - und Gerichtsbescheid vom 16. Januar 2009 - 20 A 529/08 -; VG Braunschweig, Urteil vom 25. Februar 2009 - 1 A 237/08 -; VG Oldenburg, Urteil vom 10. Dezember 2008 - 7 A 12/08 -; VG Minden, Urteil vom 18. November 2008 - 10 K 1276/08.A -; VG Arnsberg, Urteil vom 27. Oktober 2008 - 14 K 314/08.A -; VG Freiburg, Urteil vom 26. Juni 2008 - A 1 K 2160/07 -; a.A.: BayVGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2009 - 9 B 09.30076 - und vom 3. Juni 2009 - 9 B 09.30074 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22. September 2008 - 23 K 5570/07.A - <alle juris>).

Eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in Togo mit der Folge einer hinreichenden Sicherheit der Klägerin vor erneuter Verfolgung vermag die Kammer vor diesem Hintergrund derzeit nicht anzunehmen. Die Klägerin hat sich nach den bindenden Feststellungen des VG Schwerin in dem der Anerkennungsentscheidung des Bundesamtes zugrundeliegenden Urteil vom 30. Mai 2000 exilpolitisch exponiert betätigt und sich einer Gefahr der politischen Verfolgung für den Fall einer Rückkehr in ihr Heimatland ausgesetzt. Dass die aufgezeigte Entwicklung der politischen Lage in Togo inzwischen zu einem Wegfall einer Verfolgungsgefahr für die Klägerin geführt haben könnte, ist nach alledem nicht erkennbar.

Vor diesem Hintergrund ist der angefochtene Widerrufsbescheid insgesamt aufzuheben und der Klage damit vollumfänglich stattzugeben. [...]