Widerruf der Flüchtlingsanerkennung einer türkischen Staatsangehörigen, die wegen der Verfolgung ihres Vaters erfolgte, da Sippenhaft in der Türkei seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr in vergleichbarem Ausmaß feststellbar ist und auch der Vater selbst in die Türkei zurückgekehrt ist, ohne dass behördliche Maßnahmen gegen ihn dargetan sind.
[...] Trotz der vorbezeichneten Rechtsprechung der Kammer bleibt jedenfalls festzuhalten, dass es sowohl in gesetzgeberischer als auch in administrativer Hinsicht positive Veränderungen der (Menschen)Rechtslage und -praxis in der Türkei in jüngerer Vergangenheit gegeben hat (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.06.2009; Europäische Kommission, Fortschrittsbericht Türkei 2007 vom 06.11.2007; European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT), Bericht vom 07. - 14.12.2005 vom 06. September 2006; Serafettin Kaya an Hessischen VGH vom 12.10.2005).
Diese Veränderungen stellen sich im Fall der Klägerin als hinreichend wirkungsvoll dar, um ihr eine Rückkehr ansinnen zu können. Das Verwaltungsgericht des Saarlandes hat im Asylklageverfahren die Gefahr für die Klägerin maßgeblich auf die Verhaftung und Verurteilung ihres Vaters, ..., gestützt und die von anderen engen Familienmitgliedern der Klägerin vorgetragenen Verfolgungsgeschehnisse als Indiz dafür genommen, dass die direkten Nachfahren des ... landesweit der Gefahr sippenabhängiger Maßnahmen unterliegen. Diese Gefahr kann nach der neueren Auskunftslage für die Klägerin mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Sippenabhängige Repressalien kamen in der Türkei mit unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten vor. Willkürliches Vorgehen in größerer Anzahl gegenüber Familienangehörigen wurde maßgeblich für die Zeit bis Ende der neunziger Jahre vornehmlich in den Spannungsgebieten im Südosten, aber auch andernorts als nicht unübliche Praxis bezeichnet. Angehörige von Gesuchten konnten Gefahr laufen, Besuch von der Polizei zu bekommen oder auf die Polizeidienststelle bestellt bzw. gebracht zu werden, wo die Sicherheitskräfte oftmals nicht gerade zimperlich mit ihnen umgegangen waren. Seit Beginn der 2000er Jahre kann eine vergleichbare Praxis nicht mehr in vergleichbarem Ausmaß festgestellt werden. Als Gründe werden genannt, dass zum einen Justiz und Sicherheitsbehörden in der Türkei erhebliche Probleme bekommen hatten, solche Praktiken zu legitimieren und zum anderen, dass eine solche Praxis der politisch gewollten Annäherung an die EU entgegengestanden hätte (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an VG Frankfurt/Oder vom 26. Juni 2004; derselbe, Gutachten an VG Wiesbaden vom 29.05.2006; Osman Aydin VG Aachen vom 04.08.2004; ders. an VG Wiesbaden vom 16.06.2006; vgl. auch Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.06.2007, Serafettin Kaya an VG Wiesbaden vom 11.06.2006).
Eine Gefahr von Übergriffen aus Gründen der Verwandtschaft besteht auch nicht anlässlich der Rückkehrerüberprüfung. Zurückkehrende Verwandte unterliegen bei der Rückkehrerüberprüfung nicht der Gefahr, allein wegen ihrer Verwandtschaft festgenommen und misshandelt zu werden. Nach den den Gutachten zugrunde liegenden Fallgestaltungen gilt dies grundsätzlich auch für enge Verwandte von Guerillaangehörigen oder ansonsten exponierten PKK-Angehörigen (vgl. Serafettin Kaya an VG Freiburg vom 11.06.2008; ders. an VG Wiesbaden vom 10.06.2006; ders. an VG Stuttgart vom 19.01.2008; ders. an Hessischen VGH vom 10.12.2005).
Besondere Einzelfallumstände, die ungeachtet dieser Auskunftslage geeignet wären, eine Gefährdungslage der Klägerin zu begründen, sind nicht erkennbar. Vielmehr ist der Vater der Klägerin, von dem sie die sippenabhängige Gefährdung maßgeblich herleitet, inzwischen selbst wieder in die Türkei zurückgekehrt. Dass behördliche Maßnahmen gegen ihn ergriffen worden wären, ist nicht dargetan. Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vorgetragen hat, dass Besucher des ... in der Türkei Schwierigkeiten mit den Sicherheitsbehörden bekommen hätten, ist dies zum einen nur wenig substantiiert und zum anderen lassen sich aus den diesbezüglichen Angaben keine Rückschlüsse darauf ziehen, dass die Maßnahmen ihrer Intensität nach von asylerheblichem Gewicht gewesen wären. Auch die Verfolgungslage anderer Familienangehöriger lässt keine Schlussfolgerung darauf zu, dass die Klägerin trotz der dargestellten Verbesserung der Lage für Familienangehörige anlässlich oder nach der Einreise, insbesondere bei einer Wohnsitznahme im Westen der Türkei, ausnahmsweise asylerhebliche Repressalien befürchten müsste. [...]
Auch die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG sind nicht gegeben. Nach dieser Vorschrift scheidet der Widerruf asylverfahrensrechtlicher Rechtspositionen aus, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat seiner Staatsangehörigkeit abzulehnen. Derartige Gründe sind nicht hinreichend dargetan. Allein der Umstand, dass die Klägerin sich in den Jahren 2005 und 2006 über einige Monate lang wegen psychiatrischer Probleme in der Tagesklinik hat behandeln lassen, reicht nicht aus, eine psychische Verletzung zu belegen, die Folge von Verfolgungshandlungen in der Türkei ist und die es ihr aus humanitären Gründen unmöglich machen würde, ungeachtet der beendeten Verfolgungsgefahr, in die Türkei zurückzukehren. Gleiches gilt für die im Klageverfahren eingereichte gemeinsame Stellungnahme des ärztlichen Dienstes vom 30.11.2007 und dem erneut in Bezug genommenen Attest des Allgemeinarztes Dr. med. ... vom 04.01.2000. Beiden Bescheinigungen sind hinreichende Angaben zu Art, Ausmaß und dem Ursprung der attestierten psychischen Erkrankungen der Klägerin nicht zu entnehmen. [...]