VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 12.10.2009 - 5 L 971/09.DA - asyl.net: M16303
https://www.asyl.net/rsdb/M16303
Leitsatz:

1. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG setzt ein unbestrittenes, gesichertes Aufenthaltsrecht voraus. Die Zeit des Besitzes einer fiktiven Aufenthaltserlaubnis nach § 81 Abs. 4 AufenthG ist nicht anzurechnen, sofern der Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels abgelehnt wird.

2. Ein türkischer Staatsangehöriger kann aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 10 ARB 1/80 in Verbindung mit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 keine aufenthaltsrechtliche Position ableiten, wenn er nach der damals geltenden AEVO lediglich Anspruch auf eine befristete Arbeitserlaubnis hatte und diese bereits abgelaufen wäre.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Erlaubnisfiktion, fiktive Aufenthaltserlaubnis, türkische Staatsangehörige, Diskriminierungsverbot, Stillhalteklausel, Stand-Still-Klausel, befristete Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis, Verlängerungsantrag, Fortgeltungsfiktion,
Normen: AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 81 Abs. 4, ARB 1/80 Art. 10, ARB 1/80 Art. 13, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller erfüllt die Anforderungen an die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG nicht, da er nicht fünf Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 9 abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist. Auf die 5-Jahresfrist ist entgegen der überwiegend in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung (hierzu BayVGH, U. v. 04.02.2007 – 19 B 08.2774 – ZAR 2009, 280 m. w. N. zu § 26 Abs. 4 AufenthG) die Zeit von der Stellung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bis zur Entscheidung der Behörde über den Antrag nach § 81 Abs. 4 AufenthG nicht anzurechnen, sofern der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt wird.

§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG setzt ein unbestrittenes, gesichertes Aufenthaltsrecht voraus. Zwar lässt sich dies nicht unmittelbar dem Wortlaut der Regelung entnehmen, da die Norm nur von dem Besitz einer "Aufenthaltserlaubnis" spricht. Das Gesetz lässt aber an mehreren Stellen erkennen, dass nicht jeder rechtmäßige Aufenthalt anrechnungsfähig sein soll. So werden nach § 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG die Zeit eines rechtmäßigen Aufenthalts zum Zweck des Studiums oder der Berufsausbildung im Bundesgebiet nur zur Hälfte angerechnet. Außerdem bestimmt § 6 Abs. 4 Satz 3 AufenthG, dass die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts mit einem nationalen Visum auf die Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis angerechnet wird. Damit gibt das Aufenthaltsgesetz zu erkennen, dass nicht jeder Aufenthaltstitel berücksichtigungsfähig ist. Differenziert das Gesetz bei der Bestimmung des erforderlichen fünfjährigen Aufenthalts nach bestimmten Titeln, so liegt diesem der Gedanke zugrunde, dass nur ein gefestigter, gesicherter Aufenthalt, der auf einer Aufenthaltserlaubnis beruht, anrechnungsfähig sein soll.

Indem der Gesetzgeber nach § 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG die Zeit eines rechtmäßigen Aufenthalts zum Zweck des Studiums oder der Berufsausbildung im Bundesgebiet nur zur Hälfte angerechnet, hat er erkennbar dem Umstand Rechnung getragen, dass der Aufenthalt von Studenten während des Studiums, wie § 16 Abs. 2 AufenthG verdeutlicht, nicht auf einen verfestigten Status gerichtet ist. Erst mit erfolgreichem Abschluss des Studiums vermag sich der Aufenthalt nach § 16 Abs. 4 AufenthG zu verfestigen.

Die Anrechnung der Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts eines nationalen Visums auf die Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis § 6 Abs. 4 Satz 3 AufenthG beruht zwar auch darauf, dass ein Visum nach der in § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zum Ausdruck kommenden Systematik keine Aufenthaltserlaubnis ist, jedoch hat der Gesetzgeber mit der Anrechnungsmöglichkeit zudem klargestellt, dass er Aufenthalte, die grundsätzlich auf eine Verfestigung ausgerichtet sind, auch für berücksichtigungsfähig hält, wenn deren Rechtmäßigkeit auf einem nationalen Visum beruht. Aufenthaltszeiten, die auf anderen Visa beruhen, insbesondere Kurzaufenthalte, bleiben hingegen unberücksichtigt. Dies gilt auch dann, wenn der Aufenthalt nachträglich durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in einen verfestigten Aufenthalt einmündet.

Dass der Gesetzgeber bei § 9 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG einen gefestigten aufenthaltsrechtlichen Status im Blick hatte, wird auch aus § 9a AufenthG deutlich. Der Gesetzgeber hat § 9 AufenthG an die durch die Daueraufenthaltsrichtlinie zwingend vorgegebenen Anforderungen an eine Erlaubnis für den Daueraufenthalt-EG (Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl. L 16 vom 23.01.2004, Seite 44) angeglichen. Die Angleichung der Niederlassungserlaubnis wird insbesondere aus der Änderung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG (Gründe der Sicherheit und Ordnung) und der Aufnahme des § 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG (Anrechnung von Studienzeiten) deutlich. Damit strebte der Gesetzgeber eine möglichst inhaltsgleiche Ausgestaltung der Voraussetzungen beider Daueraufenthaltsrechte an, was für eine im Zweifel einheitliche Auslegung der verwendeten Rechtsbegriffe spricht, soweit Besonderheiten sich nicht aus der Daueraufenthaltsrichtlinie ergeben. Dass der Gesetzgeber in § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG die Erteilung der Erlaubnis zu Daueraufenthalt-EG an den Besitz eines Aufenthaltstitels und nicht einer Aufenthaltserlaubnis knüpft, ist nur darauf zurückzuführen, dass damit auch die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG anrechnungsfähig sein sollte.

In Bezug auf den fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt nach Art. 4 Abs. 1 RL 2003/109/EG geht die Daueraufenthaltsrichtlinie ersichtlich von einem gefestigten Aufenthaltsstatus aus, der erst die Voraussetzung des Rechts zu Weiterwanderung in andere Mitgliedstaaten der EU eröffnet. So führt die 6. Begründungserwägung der Daueraufenthaltsrichtlinie aus:

"Die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. Der Aufenthalt sollte rechtmäßig und ununterbrochen sein, um die Verwurzlung der betreffenden Person im Land zu belegen."

In der Begründung des Kommissionsentwurfs (KOM(2001) 127 endgültig, S. 16) vom 13.03.2001 wird hierzu zu Art. 5 des Entwurfs ausgeführt:

"Die erste Bedingung, die jemand erfüllen muss, der den Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangen möchte, betrifft die Dauer des Aufenthalts. Anhand dieses Kriteriums lässt sich die Beständigkeit des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates messen. Die geforderte Aufenthaltsdauer wird auf fünf Jahre festgelegt. Der Aufenthalt muss unbedingt rechtmäßig gewesen sein."

Folgerichtig findet die Richtlinie nach Art. 3 Abs. 2 RL 2003/109/EG u. a. keine Anwendung auf Drittstaatsangehörige, die sich zwecks Studiums oder Berufsausbildung aufhalten (Buchstabe a); denen zwecks vorübergehenden Schutzes der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat genehmigt wurde oder die aus diesem Grund um eine Aufenthaltsgenehmigung nachgesucht haben und über deren Rechtsstellung noch nicht entschieden ist (Buchstabe b) oder die sich ausschließlich vorübergehend wie etwa als Au-pair oder Saisonarbeitnehmer, als von einem Dienstleistungserbringer im Rahmen der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen entsendete Arbeitnehmer oder als Erbringer grenzüberschreitender Dienstleistungen aufhalten oder deren Aufenthaltsgenehmigung förmlich begrenzt wurde (Buchstabe e).

Setzt die 5-Jahresfrist des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG damit einen gesicherten, unbestrittenen Aufenthaltsstatus voraus, so werden Aufenthaltszeiten, die auf der Aufenthaltsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG beruhen, nicht erfasst. Denn während des Verfahrens der behördlichen Prüfung des Verlängerungsantrags hat der Ausländer kein unbestrittenes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet, weil die Frage des Fortbestehens eines Aufenthaltsrechts gerade erst geklärt werden soll. Auch wenn man davon ausgehen wollte, dass der Gesetzgeber mit § 81 Abs. 4 AufenthG ein "neues Rechtsinstitut" (siehe Hailbronner, Ausländerrecht, § 81 AufenthG, Rdnr. 23) bzw. " einen völlig neuen aufenthaltsrechtlichen Status" (Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 81 Rdnr. 38 sowie Pfaff, ZAR 2007, 415) geschaffen hat, gilt nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG der bisherige Aufenthaltstitel (lediglich) "bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend". Dies schließt es aus, hierin ein unbestrittenes Aufenthaltsrecht zu sehen. Mit der neuen Regelung in § 81 Abs. 4 AufenthG wollte der Gesetzgeber nicht bewirken, dass während der behördlichen Prüfung eines Verlängerungsantrags noch weitere Stufen einer Aufenthaltsverfestigung entstehen. Vielmehr sollte sichergestellt werden, dass auch die mit dem Aufenthaltstitel verbundene Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit bis zur Bescheidung des Antrags fortgilt (siehe BT-Drs. 15/420, S. 96), es sollte also der Eintritt von Nachteilen für den Ausländer im Zeitraum der behördlichen Prüfung vermieden werden.

Endlich zwingt auch die ratio legis des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht zur Anrechnung des Fiktionszeitraums auf die Frist des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Die Fortgeltungsfiktion in § 81 Abs. 4 AufenthG bezweckt, dass der Ausländer nach Stellung eines Verlängerungsantrags von den Rechtswirkungen seiner seitherigen Aufenthaltserlaubnis weiterhin Gebrauch machen können soll. Hierdurch kann die Ausländerbehörde das Vorliegen der Voraussetzungen der Verlängerung des Aufenthaltstitels umfassend prüfen, ohne dass der Ausländer hierdurch einen Rechtsnachteil, insbesondere in Bezug auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, erleiden würde. Wären die Zeiten des fiktiven Aufenthalts unabhängig von der späteren Entscheidung über den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels anrechnungsfähig, so wäre die Ausländerbehörde allein aufgrund des drohenden Zeitablaufs gezwungen eine ablehnende Entscheidung zu treffen, um ein Hereinwachsen in den Aufenthaltszeitraum von fünf Jahren nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu verhindern. So zeigt gerade der vorliegende Fall, dass andernfalls ein Ausländer zunächst die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis beantragen kann, um anschließend unter Berücksichtigung der fiktiven Aufenthaltszeiten, die während der Prüfung des Antrags entstehen, einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG zu stellen.

Etwas anderes gilt hingegen dann, wenn dem Antrag auf Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nachträglich entsprochen wird. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass das gesicherte Aufenthaltsrecht bereits im Zeitpunkt der Antragstellung vorlag. [...]

Ein Aufenthaltsrecht folgt auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 ARB. Gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB hat vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats ngehört, in diesem

Mitgliedstaat

- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, wie die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid (Seite 8 bis 10) ausführlich dargelegt hat. Das Gericht nimmt insoweit auf die Ausführungen in dem Bescheid Bezug.

Als Anspruchsgrundlage für die begehrte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers kommt allein die unbefristete Arbeitsgenehmigung des Antragstellers in Betracht, die ihm von der seinerzeit zuständigen Arbeitsverwaltung am 23.09.2003 erteilt worden ist. Auch insoweit kann der Antragsteller aufgrund der Grundsätze, die die Kammer mit Beschluss vom 17. September 2009 [5 L 1411/08.DA (3)] festgelegt hat, keinen Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ableiten. [...]