KG Berlin

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Zitieren als:
KG Berlin, Beschluss vom 04.08.2009 - 1 W 376/07 u.a. - asyl.net: M16313
https://www.asyl.net/rsdb/M16313
Leitsatz:

Der Betroffene hat nicht zu beweisen, dass er nicht aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Fehlt es an Verwaltungsakten oder verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zur Ausreisepflicht und kann die Einreise über einen konkreten sicheren Drittstaat nicht nachgewiesen werden, kann eine Haftanordnung nicht ergehen. Denn auch ein (formloses) Asylgesuch führt zu einer Aufenthaltsgestattung, wenn der Betroffene nicht unerlaubt aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, unerlaubte Einreise, sichere Drittstaaten, Asylgesuch, Asylantrag, Aufenthaltsgestattung, Haftbeschluss
Normen: AsylVfG § 13 Abs. 1, AsylVfG § 55 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 14 Abs. 3, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 5, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, GG Art. 104 Abs. 1, AsylVfG § 55 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

[...]

Rechtlich zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass auch ein (formloses) Asylgesuch i.S.v. § 13 Abs.1 AsylVfG zu einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs.1 S.1 AsylVfG führt, wenn der Betroffene nicht unerlaubt aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Bereits das Amtsgericht hat die Äußerungen des Betroffenen zum Grund seiner Einreise gegenüber den Polizeibeamten am 3. Juli 2007 rechtsfehlerfrei als Asylgesuch i.S.v. § 13 Abs.1 AsylVfG gewertet. Dieses Asylgesuch steht – mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 14 Abs.3 AsylVfG – der Abschiebungshaft entgegen, wenn der Betroffene nicht aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Die Aufenthaltsgestattung lässt die Ausreisepflicht i.S.v. § 62 Abs.2 S.1 Nr.1 AufenthG entfallen. Sie verhindert auch eine Haftanordnung nach § 62 Abs.2 S.1 Nr.5 AufenthG, da eine asylrechtliche Aufenthaltsgestattung bei sämtlichen Haftgründen zu berücksichtigen ist (BayObLG, NVwZ 1993, 102; vgl. auch BVerfG, InfAuslR 2009, 205 ff. zur Prüfung der Ausreisepflicht).

Das Landgericht hat zum einen angenommen, auch auf der Grundlage der Anhörung vom 4. Juli 2007 sei von einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen auszugehen, da er unerlaubt aus einem sicheren Drittstaat eingereist sei; hiervon sei die Kammer überzeugt. Gleichzeitig hat es ausgeführt, der Reiseweg des Betroffenen sei unaufklärbar; in einem solchen Fall trage der Betroffene die materielle Beweislast für seine Behauptung, nicht aus einem sicheren Drittstaat eingereist zu sein. Diese Erörterungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Ihnen ist unter Verstoß gegen § 25 FGG nicht zu entnehmen, ob das Landgericht die Einreise über einen sicheren Drittstaat festgestellt oder eine Entscheidung nach der Feststellungslast getroffen hat. Für letzteres spricht, dass es die Angaben des Betroffenen insgesamt für nicht glaubhaft gehalten und mit Verfügung vom 10. Juli 2007 darauf hingewiesen hat, es könnte u.U. nicht auszuschließen sein, dass er mit dem Schiff in Deutschland – nicht aus einem sicheren Drittstaat – eingereist sei. Verbleiben aber nach ausreichenden Ermittlungen und Würdigung aller wesentlichen Umstände Zweifel daran, ob der Betroffene aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist, kann eine Haftanordnung nicht ergehen. Denn für den Eingriff in das grundrechtlich geschützte Freiheitsrecht müssen die gesetzlichen Haftvoraussetzungen positiv feststehen, Art. 2 Abs.2 S.2 und 3 i.V.m. Art. 104 Abs.1 GG. Dazu gehört hier auch das Fehlen einer asylrechtlichen Aufenthaltsgestattung als Voraussetzung für die Ausreisepflicht. Fehlt es – wie hier zum Zeitpunkt der Haftanordnung vom 4. Juli 2007 – an Verwaltungsakten oder verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zur Ausreisepflicht des Betroffenen, trägt dieser im Abschiebungshaftverfahren nicht die Feststellungslast dafür, dass er nicht aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Dem steht nicht entgegen, dass der Betroffene im Asylverfahren bei Unaufklärbarkeit des Reisewegs die materielle Beweislast für seine Behauptung trägt, er sei ohne Berührung eines sicheren Drittstaats eingereist (vgl. BVerwG, NVwZ 2000, 81, 83). Im hiesigen Verfahren geht es nicht um die Herleitung einer günstigen Rechtsfolge für den Betroffenen, sondern um einen Eingriff in sein Freiheitsrecht. Etwas Anderes folgt auch nicht aus § 82 Abs.1 AufenthG. Abgesehen davon, dass ein Hinweis nach § 82 Abs.3 AufenthG nicht erteilt wurde, gilt die Vorschrift für Angaben gegenüber der Ausländerbehörde und nicht für das Verfahren nach dem Freiheitsentziehungsgesetz.

Der Senat kann entsprechend § 563 Abs.3 ZPO in der Sache selbst entscheiden, da weitere Ermittlungen nach § 12 FGG nicht erforderlich sind. Die Haftanordnung vom 4. Juli 2007 war – im Gegensatz zur Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung, bei der dringende Gründe für die Annahme der Haftvoraussetzungen genügen und nur der Erkenntnisstand vom 3. Juli 2007 zu berücksichtigen ist – rechtswidrig. Auf der Grundlage der Anhörung vom 4. Juli 2007 ist die Einreise des Betroffenen aus einem sicheren Drittstaat nicht (mehr) feststellbar. Sowohl aus den Angaben des Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen als auch aus seinen persönlichen Erklärungen vom 4. Juli 2007 ergibt sich, dass der Betroffene unmittelbar aus G. mit dem Schiff in Deutschland eingereist sein will. Die vorangegangenen, abweichenden Angaben des Betroffenen mögen Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellung begründen, sind jedoch bereits wegen der Sprachschwierigkeiten des Betroffenen keine geeignete Grundlage für eine gegenteilige Tatsachenfeststellung. Die Mitteilung des Betroffenen, der Ankunftshafen sei so weit weg gewesen, dass er im Zug nach Berlin übernachtet habe, lässt ebenfalls keinen hinreichenden Schluss auf die Einreise aus einem sicheren Drittstaat zu. Mit "Übernachtung" können auch wenige Stunden Schlaf zur Nachtzeit gemeint sein. Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene während der Zugfahrt eine Grenze passiert hat, bestehen nicht. Schließlich sind seine Angaben – wie auch vom Landgericht angenommen – derart vage und widersprüchlich, dass sie zur Überzeugungsbildung des Gerichts nicht genügen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene direkt nach Deutschland eingereist ist. [...]