VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 23.11.2009 - M 4 K 09.50443 - asyl.net: M16324
https://www.asyl.net/rsdb/M16324
Leitsatz:

Keine relevante Verfolgung i. S. v. § 60 Abs. 1 AufenthG für Yeziden im Nordirak. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i. S. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt im Irak nicht vor, seit 2008 hat die Zahl der Anschläge stark abgenommen. Die bayerische Erlasslage schließt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus.

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Asylverfahren, Nordirak, Provinz Dohuk, Qualifikationsrichtlinie, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

I. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor, da der Kläger nach Aktenlage aus B kommt, welches zur Überzeugung des Gerichts "de jure" zur Provinz Dohuk gehört, welche wiederum eine der drei kurdisch kontrollierten Provinzen im Nordirak darstellt (vgl. Gutachten des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 25.7.2008, Bl. 84 der Gerichtsakte). Insoweit geht aber auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof davon aus (vgl. z.B. BayVGH vom 14.11.2007, Az.: 23 B 07.30495), dass für Yeziden im Nordirak keine i.S. von § 60 Abs. 1 AufenthG relevante politische Verfolgung stattfindet (ebenso OVG Lüneburg vom 23.5.2007, Az.: 9 LA 229/06 zur Situation der Yeziden). [...]

2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Vorschrift setzt die sich aus Art. 18 i.V.m. Art. 15 Buchst, c der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines "subsidiären Schutzstatus" bzw. "subsidiären Schutzes" in nationales Recht um.

2.1 Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen (vgl. BVerwG v. 24.6.2008, a.a.O.). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts i.S. von Art. 15 Buchst, c der Richtlinie 2004/83/EG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind.

Ein „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt" i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst, c der Richtlinie 2004/83/EG kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (vgl. BVerwG v. 24.6.2008, a.a.O.).

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze kommt das Gericht vorliegend zu der Überzeugung, dass die derzeitige Situation im Irak nicht die Annahme eines Bürgerkriegs und damit eines landesweit oder auch nur regional bestehenden bewaffneten Konflikts i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu rechtfertigen vermag:

Zwar ist die Sicherheitslage im Irak immer noch verheerend. Mehrere ineinander greifende Konflikte überlagern sich: der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische; Terroranschläge zumeist sunnitischer Islamisten gegen die Zivilbevölkerung; konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen zwischen den großen Bevölkerungsgruppen (arabische Sunniten, arabische Schiiten, Kurden), aber auch mit den Minderheiten; Kämpfe zwischen Milizen um Macht und Ressourcen. Mit dem Anschlag vom 22. Juni 2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra und den Vergeltungsaktionen in der Folge näherte sich der Irak offenen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen.

Allerdings hat seit dem Frühjahr 2007 (Beginn der US-amerikanischen Truppenaufstockung mit neuer Strategie) die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Irak deutlich abgenommen (siehe auch 2.2). Auch die interkonfessionelle Übergriffe haben seit dem selbstbewussten Durchgreifen der Regierung gegen Milizen ab dem Frühjahr 2008 nachgelassen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 6.10.2008, S. 4). Die Durchführung der landesweiten Provinzwahlen Anfang dieses Jahres ist weitgehend friedlich ohne bewaffnete Auseinandersetzungen und früher übliche Anschläge verlaufen. Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnissen deshalb davon aus, dass derzeit weder ein landesweiter noch ein regionaler (in der Herkunftsregion des Klägers) innerstaatlicher bewaffneter Konflikt festgestellt werden kann. Hinzu kommt, dass auch die Anschlagszahlen tendenziell rückläufig sind.

2.2 Darüber hinaus begründet ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht dem Kläger als Angehöriger der Zivilbevölkerung vorliegend aber nicht. [...]

Vorliegend kann jedenfalls selbst bei Unterstellung eines innerstaatlichen

oder internationalen Konflikts im Irak nicht davon ausgegangen werden, dass der den bestehenden Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, Az.: C-465/07-juris). Im Irak leben nach den vorliegenden Erkenntnismitteln insgesamt etwa 27,5 Mio. Menschen.

Die Zahl der Anschläge und Übergriffe haben seit dem Frühjahr 2008 stark abgenommen. Im Jahr 2006 gab es nach Schätzungen des Iraq Body Count (vgl. www.iraqbodycount.org/database) im Irak insgesamt ca. 27.652, im Jahr 2007 ca. 24.518 zivile Opfer (dies entspricht ca. 0,089 % der geschätzten Gesamtbevölkerung). Im Jahr 2008 sanken die Opferzahlen bei den Zivilpersonen auf 9.204 (= 0,033 %). Vergleicht man die vom Iraq Body Count geschätzten Zivilopfer von Januar 2009 bis September 2009 (etwa ca. 3.522 zivile Opfer) mit den entsprechenden Zahlen des Vorjahres, so sind die Opferzahlen nochmals um mehr als die Hälfte gesunken. [...]

Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 3. Juli 2008 (Az.: IA-2086.10-439) zur "ausländerrechtlichen Behandlung irakischer Staatsangehöriger" verfügt, dass irakische Staatsangehörige, die nicht Straftäter oder unter Sicherheitsaspekten vordringlich abzuschieben sind, nicht abgeschoben werden und Duldungen bis auf Weiteres auf der Grundlage des § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bis zur Dauer von sechs Monaten erteilt bzw. verlängert werden. Das Gericht geht daher davon aus, dass die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger weiterhin grundsätzlich ausgesetzt bleibt. Damit liegt eine Erlasslage i.S. des § 60 Abs. 1 Satz 3, § 60 a AufenthG vor, die dem Kläger derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt. Folglich bedarf der Kläger keines zusätzlichen Schutzes vor der Durchführung der Abschiebung etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG v. 12.7.2001, NVwZ 2001, 1420 zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AusIG). Der Kläger ist deswegen auch nicht schutzlos gestellt. Denn sollte der ihm infolge des genannten Rundschreibens zustehende Abschiebungsschutz nach Rechtskraft dieses Urteils entfallen, so könnte er unter Berufung auf eine - dann noch bestehende - extreme Gefahrenlage jederzeit ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vor dem Bundesamt verlangen (vgl. BVerwG v. 12.7.2001, a.a.O.). [...]