VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 17.11.2009 - A 3 K 3092/09 - asyl.net: M16326
https://www.asyl.net/rsdb/M16326
Leitsatz:

Auch bei Unterstellung einer regionalen Gruppenverfolgung der tschetschenischen Kläger kommt eine Flüchtlingsanerkennung nicht in Betracht, da sie an innerhalb der Russischen Föderation internen Schutz finden können. Auch die Betreuung psychisch kranker Menschen ist in der Russischen Föderation sichergestellt.

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenien, Regionale Gruppenverfolgung, Asylverfahren, inländische Fluchtalternative, innerstaatliche Fluchtalternative, interner Schutz, Zumutbarkeit, Qualifikationsrichtlinie, wirtschaftliches Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Gericht unterstellt aber zu Gunsten der Kläger, dass sie vor der Ausreise aus Tschetschenien dort von einer regionalen Gruppenverfolgung betroffen waren. Ob dies tatsächlich der Fall war - ob mithin tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort aus asylerheblichen Gründen (wegen ihres Volkstums oder ihrer politischen Überzeugung) in der erforderlichen Verfolgungsdichte und -intensität von staatlichen russischen Stellen bzw. mit ihnen verbündeten tschetschenischen Kräften verfolgt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006,1420) braucht demgemäß nicht entschieden zu werden.

Auf der Grundlage der (unterstellten) Gruppenverfolgung der Kläger wäre ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG dann gegeben, wenn sie zum einen auch bei einer Rückkehr nach Tschetschenien wegen ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit einer (regionalen) Gruppenverfolgung - mit der erforderlichen Verfolgungsmotivation und Verfolgungsdichte - unterlägen, wobei sie sich auf einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab berufen könnten, und wenn ihnen zum anderen eine zumutbare inländische Fluchtalternative in anderen Landesteilen Russlands nicht zur Verfügung stünde. Ob die erstgenannte Voraussetzung (Gruppenverfolgung in Tschetschenien, hinreichende Sicherheit) gegeben ist, braucht das Gericht ebenfalls nicht zu entscheiden. Denn auch wenn man diesen Verfolgungssachverhalt zu Gunsten der Kläger unterstellt, können sich die Kläger jedenfalls an einen Ort innerhalb der Russischen Föderation begeben, an dem sie eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG nach Maßgabe der Auslegungskriterien nach Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG (interner Schutz) finden können. Es bedarf deshalb keiner Entscheidung darüber, ob den Klägern eine Rückkehr nach Tschetschenien zumutbar ist (so Hessischer VGH, Urt. v. 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A- und BayVGH, Urt. vom 31.08.2007 - 11 B 02.31724 -, beide Juris, für den Fall, dass die Rückkehrer selbst oder ihr familiäres Umfeld nicht mit ehemaligen Mitgliedern der Rebellen in Zusammenhang gebracht werden). [...]

In einer neueren Entscheidung hat sich das Bundesverwaltungsgericht ferner mit der Frage auseinandergesetzt, was dem Betroffenen am Ort der Fluchtalternative an Tätigkeiten zumutbar ist, um seinen Lebensunterhalt zu sichern (Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Juris, mit dem das eine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen ablehnende Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 31.03.2006 - 2 L 40/06 -, Juris, aufgehoben und die Sache zurückverwiesen worden ist) und hat damit Erwägungen angestellt, die auch den Anforderungen des Art. 8 RL 2004/83/EG Rechnung tragen. Nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, denen das Gericht folgt, bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum grundsätzlich dann, wenn sie dort - auch ohne förmliche Gewährung eines Aufenthaltsrechts und ohne Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen - durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer "Schatten- oder Nischenwirtschaft" stattfinden. Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine kriminelle Arbeit - etwa durch Beteiligung an Straftaten im Rahmen "mafiöser" Strukturen - ist dagegen nicht zumutbar.

Gemessen an diesen - vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg u.a. in seinem "Tschetschenien"-Urteil vom 25.10.2006 - A 3 S 46/03 - dargelegten - Grundsätzen ist es den Klägern nach der gegenwärtigen Sachlage (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG sowie Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) zuzumuten und kann von ihnen daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass sie ihren Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nehmen, an dem sie vor Verfolgung sicher sind und wo ihr soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.

Außerhalb Tschetscheniens und der benachbarten Fluchtgebiete, vor allem Inguschetiens, unterliegen Tschetschenen wegen ihrer Volkszugehörigkeit nicht in einem abschiebungsschutzrechtlich relevanten Ausmaß Übergriffen staatlicher Stellen. Gleiches gilt für Verfolgungshandlungen sonstiger, "privater" Verfolger. [...]

Im Rahmen der Prüfung von § 60 Abs. 1 AufenthG kann offen bleiben, ob für Tschetschenen das wirtschaftliche und soziale Existenzminimum in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens gewährleistet wäre. Denn insoweit würde eine inländische Fluchtalternative durch solche - einer asylrechtlich erheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommende - Gefahren nur dann ausgeschlossen, wenn diese am Herkunftsort Tschetschenien so nicht bestünden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2003 - 2 BvR 32/03-, DVBl. 2004, 111, und BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C 17.98 BVerwGE 108, 84,87, jeweils m.w.N.). Nach der vorliegenden Erkenntnislage ist aber die sozio-ökonomische Lage in Tschetschenien im Verhältnis zu anderen Regionen der Russischen Föderation weitaus schlechter. Die Grundversorgung der tschetschenischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen und Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern in vielen Fällen, dass die für den Wiederaufbau vorgesehenen Gelder sachgerecht verwendet werden. Etwa 50 % des Wohnraums ist seit dem ersten Tschetschenienkrieg zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der offiziellen Statistik 80 % (russischer Durchschnitt: 7,6 %), das reale Pro-Kopf-Einkommen beträgt nach den offiziellen Statistiken etwa 1/10 des Einkommens in Moskau (AA, Lageberichte vom 18.8.2006 und vom 22.11.2008). [...]

Tschetschenen haben nach den vorliegenden Erkenntnismitteln die Möglichkeit, in der tschetschenischen Diaspora in anderen Teilen Russlands, insbesondere im Gebiet Rostow, in der Wolgaregion, Karatschajewo-Tscherkessien, Dagestan und Nordossetien (vgl. AA, Lageberichte vom 18.08.2006 und vom 22.11.2008) das soziale und wirtschaftliche Existenzminimum zu sichern (so jedenfalls für Tschetschenen mit Inlandspass auch VGH Baden-Württemberg, a.a.O.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Juris, Beschlüsse vom 31.07.2002 - 1 B 128.02 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 326, vom 21.05.2003 - 1 B 298.02 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270, und vom 17.5.2006 - 1 B 100.05 -, Juris) bietet ein verfolgungssicherer Ort dem Flüchtling das wirtschaftliche Existenzminimum immer dann, wenn er durch eigene Arbeit (auch im Bereich der Schattenwirtschaft) oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das wäre (dagegen) nicht der Fall, wenn er am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hätte, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führte oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hätte als ein "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums". Dies ist für die Kläger auch dann nicht zu befürchten, wenn man zu ihren Gunsten davon ausgeht, dass ihnen die für eine Passausstellung erforderliche vorübergehende Rückkehr nach Tschetschenien (vgl. AA, Lageberichte vom 18.08.2006 und 22.11.2008, jeweils S. 28) nicht zumutbar ist und sie deshalb eine Registrierung in anderen Landesteilen nicht erreichen können. [...]

Die Betreuung psychisch kranker Menschen ist in der Russischen Föderation aber sichergestellt. In Moskau ist eine Behandlung insbesondere von Kindern und Jugendlichen unter anderem im 18. Psychoneurologischen Kinderkrankenhaus möglich. Dort werden regelmäßig auch traumatisierte Kinder und Jugendliche aus Tschetschenien behandelt. Die Kosten werden von den Gesundheitsbehörden getragen (Auswärtiges Amt vom 5.11.2007 an das VG Köln). In St. Petersburg kann eine posttraumatische Belastungsstörung in der "Akademischen Pavlov Klinik für die Behandlung von Neurosen" behandelt werden. Das gilt zwar nur für diejenigen, die in St. Petersburg gemeldet sind. Personen, die keine Registrierung und kein Niederlassungsrecht in St. Petersburg haben, werden jedoch vom Psychiatrischen Spital Nr. 4 angenommen. Diese Klinik ist spezialisiert für dringende psychiatrischen Notfälle für Migrantinnen und aus anderen Städten der Russischen Föderation zugewanderte Personen. Die Klägerin zu 1 kann deshalb darauf verwiesen werden, sich im Falle einer Verschlimmerung ihres Zustandes zur Behandlung und ggf. zur Krisenintervention in diese Klinik zu begeben (vgl. hierzu Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 20.04.2009). Da somit zumindest diese Behandlungsmöglichkeiten für die Klägerin zu 1 in Notfällen besteht, bedarf es keiner Einholung eines ärztlichen Gutachtens zur Klärung der Frage, ob bei der Klägerin zu 1 das für eine Krisenintervention erforderliche Vertrauen in russische Ärzte besteht. [...]