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VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 03.07.2009 - 5 A 1606/06 As - asyl.net: M16380
https://www.asyl.net/rsdb/M16380
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer Kurdin aus der Türkei wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung.

Schlagwörter: Türkei, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Qualifikationsrichtlinie, geschlechtsspezifische Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3
Auszüge:

[...]

Das Gericht hat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin vor ihrer Ausreise von geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen in ihrer Heimat betroffen war und dementsprechend aus begründeter Furcht vor Verfolgung (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie) ihr Heimatland verlassen hat.

Wie sich insbesondere aus den ausführlichen Darlegungen in dem wissenschaftlich-psychiatrischen Gutachten des vom Gericht beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. H. J. Freyberger, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald im Hanse-Klinikum Stralsund GmbH ergibt, ist die Klägerin - auch im Hinblick auf ihre kurdische Identität - in ihrer Heimat bis zu ihrer Ausreise wiederholt von Angehörigen der in der Region stationierten Sicherheitskräfte wiederholt erheblich mißhandelt und geschlagen worden. In dem Gutachten sind insgesamt vier Ereignisse traumarelevanten Ausmaßes herausgearbeitet worden, wobei es in zwei Fällen zu sexuellen Übergriffen gekommen ist. So sei die Klägerin zu 1. bereits 16-jährig Opfer eines sexualisierenden Übergriffs geworden. Vor dem Hintergrund ihrer starken religiösen Orientierung und der damit zusammenhängende Tabuisierung spezifisch sexueller Erlebnisinhalte könne ein Traumacharakter angenommen und verifiziert werden. Für das Jahr 1989 habe die Klägerin glaubhaft und nachvollziehbar von einem durch einen polizeilichen Gewaltübergriff herbeigeführten Abort berichtet. Im Jahre 1996 sei es erneut zu einem sexuellen Übergriff in Polizeigewahrsam gekommen, wobei wegen des angsterfüllten Explorationsverhaltens nicht vollständig habe geklärt werden können, ob es sich hier um eine Vergewaltigung gehandelt habe. Im Jahre 1998 sei sie erneut von Polizisten geschlagen worden. [...]

Angesichts dieser Erlebnisse der Klägerin zu 1. vor ihrer Ausreise ist ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben. Wie in der mündlichen Verhandlung deutlich geworden ist, bestand auch zum Zeitpunkt ihrer Ausreise für sie eine Bedrohungssituation. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei kann die Gefahr einer erneuten geschlechtsspezifischen Verfolgung der Klägerin zu 1. im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Zwar wurden in den letzten Jahren in der Türkei, insbesondere unter der AKP-Regierung, durch Gesetzes- und Verfassungsänderungen sowie andere Reformmaßnahmen markante Fortschritte erzielt, die insbesondere die Rechte Inhaftierter gestärkt haben und der Eindämmung von Folter und Mißhandlung dienten. So hat die AKP-Regierung alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt, Folter Mißhandlung im Rahmen einer "Null-Toleranz-Politik" zu unterbinden. Trotz der gesetzgeberischen Maßnahmen und trotz einiger Verbesserungen ist es der Regierung bislang nicht gelungen, Folter und Mißhandlung vollständig zu unterbinden. Seit der Regierungskrise im Jahre 2007 ist jedoch ein Stillstand eingetreten, teilweise sind sogar Rückschritte im Menschenrechtsbereich zu verzeichnen. Nach übereinstimmenden Aussagen von Menschenrechtsorganisationen ist im Jahre 2007 sogar wieder eine Zunahme der Foltervorwürfe festzustellen. Es ist der Regierung bisher nicht gelungen, Fälle von Folter und Mißhandlung in dem Maße einer Strafverfolgung zuzuführen, wie dies dem erklärten Willen entspricht. Hierin liegt eine der Hauptursachen für das Fortbestehen von Folter und Mißhandlung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 11.09.2008). [...]