VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 01.12.2009 - A 6 K 2367/08 - asyl.net: M16420
https://www.asyl.net/rsdb/M16420
Leitsatz:

Allein die Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers ohne konkreten Bezug auf diesen stellt keine wesentliche Sachverhaltsänderung dar, die einen Widerruf von Abschiebungshindernissen rechtfertigen könnte.

Schlagwörter: Widerrufsverfahren, Widerruf, Türkei, gerichtlicher Vergleich, Rechtskraftwirkung, Änderung der Sachlage, individuelle Prüfung des Einzelfalls, PKK
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3, VwVfG § 60 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Dem Widerruf steht allerdings nicht der zwischen den Beteiligten geschlossene Vergleich vom 29.10.2001/12.11.2001 entgegen. Nach Auffassung des Gerichts ist ein weiteres Festhalten an dem Vergleich dann nicht mehr veranlasst, wenn nach dem für diesen Vergleich maßgeblichen Zeitpunkt eine neue Sachlage eingetreten ist, die sich so wesentlich von der den früher maßgeblichen Umständen unterscheidet, dass auch unter Berücksichtigung des Vergleichs eine erneute Sachentscheidung gerechtfertigt ist. Insoweit kann auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Durchbrechung der Rechtskraft eines asylrechtlichen Urteils zurückgegriffen werden (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 18.9.2001, a.a.O.). Diese Grundsätze lassen sich auf den vorliegenden Vergleich entsprechend anwenden. Wenn eine erheblich veränderte Sachlage den Widerruf selbst bei Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils ermöglicht, so kann im Hinblick auf eine aufgrund eines Vergleichs erfolgte Feststellungsentscheidung nichts anderes gelten (vgl. VG Augsburg, Urt. v. 20.03.2009 - AU 4 K 08.30110 -). Bei einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage sind im Übrigen regelmäßig auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG gegeben. Dies gilt jedenfalls dann, wenn dem Vergleich nichts anderes zu entnehmen ist.

Gegenstand des Vergleichs war allein die Frage, ob - und zwar zum Zeitpunkt des Vergleichsschlusses - die Voraussetzungen des Art. 16 a Abs. 1 GG und der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG vorlagen. Mit dem Vergleich einigten sich die Beteiligten allein darüber, dass zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 53 AuslG als gegeben angesehen wurden, weshalb die Beklagte sich zum Erlass eines entsprechenden Feststellungsbescheids verpflichtete. Nichts spricht für die Annahme, dass die Beklagte auch bei einer Änderung der Sach- und Rechtslage gehindert sein sollte, ihren Bescheid unter den Voraussetzungen des § 73 AsylVfG zu widerrufen.

Jedoch sind vorliegend die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG nicht gegeben.

Einen den Widerruf rechtfertigenden Sachverhalt hat die Beklagte weder dargetan noch ist ein solcher ersichtlich. Die Beklagte hat in dem angegriffenen Widerrufsbescheid zwar umfänglich ausgeführt, die Sachlage habe sich grundlegend geändert, eine tragfähige Begründung einer solchen Sachverhaltsänderung bezogen auf den Fall des Klägers enthält der Bescheid jedoch nicht. Ob die Änderung der Verhältnisse in der Türkei, deren Umfang vorliegend dahingestellt bleiben kann, bezogen auf den Kläger wesentlich ist, lässt sich auch nicht aus sonstigen Umständen ableiten. Der gerichtliche Vergleich, der Grundlage der Feststellungsentscheidung der Beklagten ist, führt zur Begründung lediglich aus, der Kläger sei in die in der Bundesrepublik Deutschland illegal tätige PKK eingebunden; aufgrund seiner Verstrickung in die Organisation der PKK drohe ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr in die Türkei ein Verhör unter Folter. Was im Einzelnen unter "Verstrickung" in die Organisation der PKK zu verstehen ist, lässt sich dem Vergleich nicht entnehmen. Die Beklagte hat auch nicht im Zuge des Widerrufsverfahrens aufgeklärt, in welcher Form der Kläger in die PKK "verstrickt" war. Ohne Feststellung von Art, Ausmaß und zeitlicher Dauer der "Verstrickung" in die PKK kann indes nicht beurteilt werden, ob die Voraussetzungen des § 53 AuslG nicht mehr vorliegen. Die Bedeutung von Änderungen für den heutigen Status ist jedoch durch einen Abgleich mit den Gründen festzustellen, die seinerzeit zur Asylanerkennung bzw. der Feststellung der Voraussetzungen der §§ 51, 53 AuslG führten (VG Berlin, Urt. v. 25.01.2008 - VG 36 X 5.06 -). Allein die bloße Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers ohne konkreten Bezug auf diesen stellt keine wesentliche Sachverhaltsänderung dar. [...]