BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - asyl.net: M16433
https://www.asyl.net/rsdb/M16433
Leitsatz:

1. Stützt ein Ausländer seinen Asylfolgeantrag auf neue selbst geschaffene exilpolitische Nachfluchtaktivitäten, greift der Regelausschlussgrund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 28 Abs. 2 AsylVfG auch dann ein, wenn der Ausländer zwar bei Verlassen des Herkunftslands alters- und entwicklungsbedingt noch nicht in der Lage war, sich eine feste politische Überzeugung zu bilden, er diesen Entwicklungsstand aber vor Abschluss des dem Folgeantrag vorausgegangenen Asylverfahrens erreicht hat. Hiervon ist in aller Regel mit Vollendung des 16. Lebensjahrs, spätestens jedoch mit Vollendung des 18. Lebensjahrs auszugehen.

2. Zur Widerlegung der Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylVfG muss der Ausländer gute Gründe dafür anführen, warum er nach einem erfolglosen Asylverfahren erstmalig exilpolitisch aktiv geworden ist oder seine bisherigen Aktivitäten ausgeweitet hat (so schon BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 - BVerwG 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Asylantrag, Asylfolgeantrag, Erstverfahren, subjektive Nachfluchtgründe, politische Überzeugung, Exilpolitik, Regelausschlussgrund, Ausschlussgrund, gesetzliche Vermutung, Ausnahmefall, Missbrauch, Handlungsfähigkeit, jugendlicher Asylbewerber, Altersgrenze, minderjährig
Normen: AsylVfG § 12 Abs. 1, AsylVfG § 28, AsylVfG § 71 Abs. 1, AsylVfG § 77 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, RL 2004/83/EG Art. 5
Auszüge:

[...]

3. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aber mit einer Begründung bejaht, die mit § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht vereinbar ist. Nach dieser Bestimmung kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat. [...]

b) Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AsylVfG liegen vor. Die Vorschrift ist auf alle nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags vom Ausländer selbst geschaffenen Nachfluchttatbestände anzuwenden. Der Kläger befindet sich inzwischen im zweiten Folgeantragsverfahren. Die Gründe, auf die er diesen Folgeantrag stützt, hat er zu einem Zeitpunkt geschaffen, als die ablehnenden Entscheidungen in den beiden vorangegangenen Asylverfahren bereits bestandskräftig waren. Damit ist der Tatbestand des § 28 Abs. 2 AsylVfG erfüllt und es tritt die gesetzliche Rechtsfolge ein, derzufolge die Flüchtlingseigenschaft in der Regel nicht zuerkannt werden kann. [...]

Schafft ein Ausländer in Kenntnis der Erfolglosigkeit eines oder gar mehrerer Asylverfahren einen Nachfluchtgrund, spricht viel dafür, dass er mit diesem Verhalten nur die Voraussetzungen herbeiführen will, um in einem (weiteren) Folgeverfahren seinem Begehren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft doch noch zum Erfolg zu verhelfen. Der Gesetzgeber hat deshalb mit der - im Einzelfall widerlegbaren - Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylVfG die Berufung auf Nachfluchttatbestände, die nach negativem Abschluss eines Asylverfahrens von dem Betreffenden selbst geschaffen werden, unter Missbrauchsverdacht gestellt. Die für das Verständnis der Vorschrift entscheidende zeitliche Zäsur liegt hier also - anders als beim Grundrecht auf Asyl - nicht in der Ausreise, sondern im erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens. Bei allen vom Ausländer nach diesem Zeitpunkt geschaffenen Nachfluchttatbeständen wird regelmäßig ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes vermutet. Damit erübrigt sich ein positiver Nachweis des finalen Zusammenhangs zwischen dem selbst geschaffenen Nachfluchttatbestand und dem erstrebten Flüchtlingsstatus im Einzelfall. § 28 Abs. 2 AsylVfG verlagert die Substantiierungs- und die objektive Beweislast auf den Ausländer, der die gesetzliche Vermutung widerlegen muss, um in den Genuss der Flüchtlingsanerkennung zu gelangen (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008 - BVerwG 10 C 27.07 - a.a.O. Rn. 14).

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann daher bei Ausländern, die als Jugendliche eingereist sind und sich in einem Folgeverfahren auf neue exilpolitische Aktivitäten berufen, § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht bereits dann außer Betracht bleiben, wenn sie sich bei Verlassen des Herkunftslands auf Grund ihres Alters und Entwicklungsstands noch keine feste politische Überzeugung bilden konnten. Die entsprechende, für das Asylgrundrecht geltende Regelung in § 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG findet im Rahmen von § 28 Abs. 2 AsylVfG keine Anwendung. Die Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylVfG gilt vielmehr auch in Fällen, in denen sich der Ausländer alters- und entwicklungsbedingt im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte, diesen Entwicklungsstand aber - wie hier - vor Abschluss des vorangegangenen Asylverfahrens erreicht hat.

Dabei ist davon auszugehen, dass in aller Regel bereits mit Vollendung des 16. Lebensjahrs, spätestens jedoch mit Vollendung des 18. Lebensjahrs die Herausbildung einer festen politischen Überzeugung möglich ist. Ein Anhaltspunkt dafür, dass diese Reife regelmäßig schon von einem 16-Jährigen erwartet werden kann, ergibt sich aus § 12 Abs. 1 AsylVfG. Danach ist ein Ausländer im Asylverfahren, sofern er nicht nach Maßgabe des Bürgerlichen Gesetzbuchs geschäftsunfähig oder im Falle seiner Volljährigkeit in dieser Angelegenheit zu betreuen und einem Einwilligungsvorbehalt zu unterstellen wäre, mit Vollendung des 16. Lebensjahrs handlungsfähig. Geht der Gesetzgeber davon aus, dass ein Jugendlicher typischerweise bereits mit 16 Jahren in der Lage ist, selbst ein Asylverfahren durchzuführen und die damit verbundenen Chancen und Risiken einzuschätzen, spricht dies dafür, dass er in diesem Alter in aller Regel auch schon die Reife zum Innehaben einer festen politischen Überzeugung besitzt. Im Übrigen ist spätestens mit Vollendung des 18. Lebensjahrs "Politikmündigkeit" anzunehmen. Der Gesetzgeber hat an diese Altersgrenze nicht nur den Eintritt der Volljährigkeit (vgl. § 2 BGB), sondern auch das aktive und das (allgemeine) passive Wahlrecht geknüpft (vgl. Art. 38 Abs. 2 GG). [...]