BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 25.08.2009 - 1 C 20.08 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 82 f.] - asyl.net: M16434
https://www.asyl.net/rsdb/M16434
Leitsatz:

Amtliche Leitsätze:

1. Die verkürzte Mindestaufenthaltsdauer von sechs Jahren nach der Altfallregelung in § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gilt nur für Eltern, die zum Stichtag 1. Juli 2007 in häuslicher Gemeinschaft mit ihren eigenen minderjährigen ledigen Kindern leben. Diese Kinder können hieraus auch für sich ein Aufenthaltsrecht ableiten. Für weitere Familienangehörige, auch für die zum Stichtag bereits volljährigen Kinder, ist hingegen eine Mindestaufenthaltsdauer von acht Jahren erforderlich.

2. Die eigenständige Altfallregelung für geduldete volljährige ledige Kinder geduldeter Ausländer nach § 104 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG fordert nicht, dass die Kinder selbst die Aufenthaltszeiten von sechs oder acht Jahren erfüllen. Es genügt insoweit der sechs- oder achtjährige Aufenthalt eines Elternteils.

Schlagwörter: Bleiberecht, Altfallregelung, Asylantrag, offensichtlich unbegründet, Sperrwirkung, Dauer des Aufenthalts, elternabhängiges Aufenthaltsrecht, volljähriges Kind, am 3/2010
Normen: AsylVfG § 30 Abs. 1, AsylVfG § 30 Abs. 3, AufenthG § 10 Abs. 3, AufenthG § 23 Abs. 1 Satz 1, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 104a Abs. 1, AufenthG § 104a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Revisionen der Kläger sind zulässig und begründet. Die angefochtenen Berufungsentscheidungen beruhen auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Kläger auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen mit einer Begründung verneint, die revisionsgerichtlicher Prüfung nicht standhält: Zu Unrecht ist es davon ausgegangen, dass der Erteilung der begehrten Aufenthaltstitel die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG entgegenstehe. Mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts zum Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen aus humanitären Gründen nach § 104a AufenthG oder anderen Vorschriften kann der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Der Erteilung der von den Klägern begehrten Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen steht die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht entgegen. Nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist oder der seinen Asylantrag zurückgenommen hat, vor der Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Abschnitts 5 erteilt werden. Gemäß Satz 2 darf, sofern der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 des Asylverfahrensgesetzes abgelehnt wurde, vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Allerdings erfasst die in § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG geregelte Sperrwirkung - entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts - auch Aufenthaltserlaubnisse nach § 104a AufenthG. Dem steht nicht entgegen, dass § 104a AufenthG in einem anderen Kapitel des Aufenthaltsgesetzes (10. Kapitel) steht als § 10 AufenthG (2. Kapitel). Denn die in § 104a AufenthG geregelten Aufenthaltserlaubnisse werden entweder als Aufenthaltserlaubnisse nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt (§ 104a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG) oder gelten zumindest als Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (§ 104a Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 AufenthG).

Die in § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG geregelte Sperrwirkung greift aber nicht bei solchen auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützten asylrechtlichen Ablehnungsbescheiden ein, die bei Inkrafttreten der Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG am 1. Januar 2005 bereits bestandskräftig waren. Die Gründe hierfür hat der Senat in seinem Urteil vom selben Tag in der Sache BVerwG 1 C 30.08 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) im Einzelnen dargelegt; hierauf wird Bezug genommen. Die im Fall der Kläger ergangenen Ablehnungsbescheide des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - Bundesamt - sind bereits seit 2002 (Kläger zu 1 bis 3) und 2003 (Klägerin zu 4) bestandskräftig, sodass sie keine Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zum Nachteil der Kläger entfalten.

Eine Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG entfaltet der an die Klägerin zu 4 gerichtete Bescheid des Bundesamtes von 2003 auch deshalb nicht, weil sich aus ihm nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit ergibt, dass die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nicht nur auf die im Bescheid genannte Vorschrift des § 30 Abs. 1 AsylVfG gestützt war, sondern auch auf § 30 Abs. 3 AsylVfG, von dem allein die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ausgeht. Wie der Senat in seinem bereits zitierten Urteil vom selben Tag in der Sache BVerwG 1 C 30.08 näher ausgeführt hat, geht die Sperrwirkung nur von solchen ablehnenden asylrechtlichen Bescheiden aus, aus denen sich durch ausdrückliche Nennung von § 30 Abs. 3 AsylVfG oder auf andere Weise für den Betroffenen eindeutig ergibt, dass der Offensichtlichkeitsausspruch gerade auf diese Vorschrift gestützt wird. Das ist bei dem an die Klägerin zu 4 gerichteten Bescheid des Bundesamtes nicht der Fall. Die allgemeine Bezugnahme auf die Tatsache, dass die Asylanträge der Eltern der Klägerin zu 4 rechtskräftig als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden waren, reicht hierfür nicht. [...]

Bei der Anwendung des § 104a Abs. 1 AufenthG wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass die Privilegierung in Gestalt einer nur sechsjährigen Mindestaufenthaltsdauer im Sinne dieser Vorschrift nur für Eltern gilt, die in häuslicher Gemeinschaft mit ihren eigenen minderjährigen ledigen Kindern leben. Diese Kinder können hieraus auch für sich ein Aufenthaltsrecht ableiten. Für weitere Familienangehörige, auch für die zum Stichtag bereits volljährigen Kinder, ist hingegen eine Mindestaufenthaltsdauer von acht Jahren erforderlich. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: [...]

Die Privilegierung in Gestalt eines lediglich sechsjährigen Aufenthalts beschränkt sich nach dem Sinn und Zweck der Regelung auf Eltern, die zum Stichtag mit ihren eigenen minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft leben. Zwar spricht § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG in diesem Zusammenhang nur vom Erfordernis einer "häuslichen Gemeinschaft" mit minderjährigen Kindern, so dass dem Wortlaut nach nicht nur die Eltern, sondern auch volljährige Geschwister und sonstige Familienangehörige sowie weitere im Haushalt lebende Dritte erfasst sein könnten. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, soll die kürzere Aufenthaltsdauer von sechs Jahren jedoch nur Eltern mit eigenen minderjährigen Kindern privilegieren, nicht aber Dritte, die mit diesen Kindern in häuslicher Gemeinschaft leben (vgl. Gesetzesbegründung der Bundesregierung, BTDrucks 16/5065, S. 201 f., die als "ausschlaggebend" für die Differenzierung zwischen dem sechs- und dem achtjährigen Aufenthalt den Umstand ansieht, dass "der Ausländer Kinder hat und mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebt"; ebenso im Ergebnis Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, S. 315 Rn. 686).

Die Klägerin zu 1 dürfte daher die erforderliche Mindestaufenthaltsdauer nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfüllen. Dies hätte zur Folge, dass auch die Klägerinnen zu 2 und 4, sofern sie zum Stichtag mit ihr in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach dieser Vorschrift erhalten können. Für den Kläger zu 3 kommt dagegen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift nicht in Betracht. Denn er war zum Stichtag 1. Juli 2007 - anders als seine beiden Schwestern - bereits volljährig und benötigte daher nach dieser Vorschrift einen Aufenthalt von mindestens acht Jahren, über die er zum Stichtag nicht verfügte.

Bei dem Kläger zu 3 dürfte jedoch die gesetzlich geforderte Mindestaufenthaltsdauer für den Ermessensanspruch nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegen. Diese Vorschrift enthält eine eigenständige Altfallregelung für volljährige ledige Kinder geduldeter Ausländer (vgl. Maaßen, a.a.O. Rn. 686). Die volljährigen Kinder im Sinne dieser Vorschrift müssen nicht selbst die Aufenthaltszeiten von sechs oder acht Jahren erfüllen, sondern können ihr Aufenthaltsrecht insoweit von dem sechs- oder achtjährigen Aufenthalt eines Elternteils ableiten. Dafür spricht schon der Wortlaut der Vorschrift. Danach kann eine Aufenthaltserlaubnis dem geduldeten ledigen Kind eines geduldeten Ausländers erteilt werden, "der" einen Mindestaufenthalt von acht Jahren oder bei häuslicher Gemeinschaft mit minderjährigen Kindern von sechs Jahren im Sinne der Vorschrift aufzuweisen hat. Die für die Aufenthaltszeit maßgebliche Person wird durch das Relativpronomen "des" eindeutig als eines der Elternteile des geduldeten volljährigen Kindes identifiziert. Es sind auch keine Gründe dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber im Rahmen des § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen dem eindeutigen Wortlaut die Mindestaufenthaltszeiten nicht nur in der Person des Elternteils, sondern zugleich auch in der Person des ledigen Kindes erfüllt sehen wollte. Der nicht näher begründeten gegenteiligen Auffassung, die verlangt, dass das volljährige ledige Kind selbst die Mindestaufenthaltszeiten nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfüllen müsse (so OVG Lüneburg, Urteil vom 27. September 2007 - 11 LB 69/07 - DVBl 2008, 57 Rn. 80; ihm folgend Maaßen, a.a.O. S. 332 Rn. 741), ist daher nicht zu folgen (ebenso: Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Oktober 2009, § 104a, Rn. 25; Albrecht, in: Storr u.a., ZuWG 2. Aufl. 2008, § 104a AufenthG, S. 776 Rn. 21). Dies führt im Übrigen im Ergebnis auch nicht zu einer ungerechtfertigten Privilegierung der volljährigen ledigen Kinder. Denn sie brauchen zwar nicht selbst über bestimmte Mindestaufenthaltszeiten zu verfügen, müssen aber die besonderen Integrationserfordernisse nach dieser Vorschrift erfüllen und als Minderjährige eingereist sein. Außerdem steht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in diesen Fällen - anders als nach Absatz 1 der Vorschrift - im Ermessen der Behörde.

Auch für die Klägerin zu 2 dürfte nach Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht ein Ermessensanspruch nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Betracht kommen. Sie ist zwar erst im Verlauf des Revisionsverfahrens volljährig geworden. § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG soll aber auch auf Kinder von Ausländern Anwendung finden, die zum Stichtag noch minderjährig waren, mittlerweile aber volljährig geworden sind (vgl. Entwurf einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, BRDrucks 669/09 Rn. 104a 1.9) und OVG Koblenz, Beschluss vom 19. Juni 2009 - 7 B 10468/09 - InfAuslR 2009, 345, 346). [...]