VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 10.11.2009 - A 9 K 1002/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 67 f.] - asyl.net: M16442
https://www.asyl.net/rsdb/M16442
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung, da der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgung in Anknüpfung an ihre Herkunft aus einer christlich geprägten Familie durch nichtstaatliche Akteure droht. Gefährdung durch islamistisch-fundamentalistische Kreise auch als junge, unverheiratete Frau ohne stabile familiäre Bindungen im Irak, die für Dritte erkennbar im Westen aufgewachsen ist.

Schlagwörter: Irak, Christen, nichtstaatliche Verfolgung, religiöse Verfolgung, Gruppenverfolgung, Zentralirak, westlich orientierte junge Frau
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

In diesem Sinne droht der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgung in Anknüpfung an ihre Herkunft aus einer christlich geprägten Familie durch nichtstaatliche Akteure. Auf der Grundlage der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel, ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass Christen aus dem Zentralirak, insbesondere wenn sie - wie die Klägerin - aus Bagdad stammen, bei einer Rückkehr in ihre Heimat in einem so hohen Maße Verfolgung durch radikal islamistische Gruppen droht, dass nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung vorliegen, was zur Folge hat, dass die Betroffenen als Flüchtlinge im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG anzuerkennen sind. Hiervon geht offenbar die Beklagte selbst aus (vgl. Bundesinnenministerium, Erlass an das BAMF vom 15.5.2007 - MI4-125 421 IRQ/0 -, Asylmagazin 7-8/2007, S. 18) und die Einschätzung entspricht auch der derzeit herrschenden Meinung in der Rechtsprechung (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 16.5.2007 - A 2 S 80/07 -, <juris>; VG Sigmaringen, Urt. v. 26.3.2009 - A 2 K 1821/08 -, <juris>). U.a. aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12.8.2009 (dort: S. 21 und 22) geht hervor, dass von den im Jahre 2003 geschätzten 1,2 Mio Christen heute nur noch geschätzte 400.000 dort leben, deren Situation sich seit Ende der Diktatur im April 2003 gravierend verschlechtert hat. Berichtet wird dort von zahlreichen, willkürlichen Übergriffen auf Christen, z.B. am 11. und 12.7.2009, als sieben Bombenanschläge auf christliche Kirchen in Bagdad verübt wurden, bei denen vier Menschen getötet und über 30 verletzt wurden. Nach der nachvollziehbaren Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist davon auszugehen, dass der Religionszugehörigkeit der Opfer erhebliche Bedeutung für Motiv und Intensität der Verfolgungshandlungen zukommt, was vor allem für die Konfliktgebiete des Zentral- und Südiraks gelte, wo Islamisten religiöse Minderheiten in besonderem Maße attackierten und diskriminierten.

Obwohl die Klägerin offiziell der schiitischen Glaubensgemeinschaft angehört und nicht christlich getauft ist, ist das Gericht auf Grund der überzeugenden Angaben der Klägerin und ihrer Schwester in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass sie bei einer Rückkehr in ihre Heimat den beschriebenen Gefahren nicht anders ausgesetzt wäre, als wenn sie getauft wäre. [...]

Vor diesem Hintergrund muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak als Christin angesehen würde und den daraus folgenden Gefahren ausgesetzt wäre. Die Klägerin müsste voraussichtlich ohne ihre Eltern (die sich erlaubt in Deutschland aufhalten) in den Irak zurückkehren. Als junge, unverheiratete Frau ohne stabile familiäre Bindungen im Irak, die für Dritte erkennbar im Westen herangewachsen ist, würde die Klägerin dort ohne Zweifel in hohem Maße gesellschaftlich auffallen und das Misstrauen islamisch-fundamentalistischer Kreise hervorrufen. Wenn dazu noch Hinweise auf eine christliche Sozialisation in der Familie der Klägerin treten, dürfte es mit Blick auf die beschriebenen Gefahren, denen Christen im Zentralirak ausgesetzt sind, keinen Unterschied machen, ob die Klägerin tatsächlich getauft wurde oder nur in einem christlichen Umfeld aufgewachsen und entsprechend erzogen worden ist. Selbst wenn es der Klägerin zugemutet werden könnte zu versuchen, ihre westliche Prägung und ihre christlichen Hintergründe im Irak zu verbergen, würde ihr dies voraussichtlich nicht in dem Maße gelingen, dass sie nicht das Misstrauen und den Hass derer auf sich ziehen würde, die für die Anschläge auf Christen im Irak verantwortlich sind. Deshalb kommt es vorliegend bei der Einschätzung der konkreten Gefahren für die Klägerin auch nicht darauf an, wie stark das Bedürfnis der Klägerin, ihre Religiosität öffentlich sichtbar auszuleben, tatsächlich ist. Dass für die Klägerin eine inländische Fluchtalternative, insbesondere im Norden des Irak in Betracht kommen könnte, ist nicht ersichtlich. [...]