VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 16.12.2009 - 19 C 09.2053 - asyl.net: M16473
https://www.asyl.net/rsdb/M16473
Leitsatz:

Rückwirkende Prozesskostenhilfebewilligung ab Entscheidungsreife für eine Feststellungsklage hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der Nebenbestimmung "die Duldung erlischt, sobald ein gültiges Rückreisedokument vorliegt und/oder die Abschiebung möglich ist". Siehe auch VGH Bayern, Beschluss v. 16.12.09 - 19 C 09.2087 - M16472.

Schlagwörter: Duldung, Nebenbestimmung, Unbestimmtheit, Prozesskostenhilfe, Feststellungsklage, richterlicher Hinweis, am 3/2010
Normen: VwGO § 43 Abs. 2 S. 1, VwGO § 83 Abs. 3, AufenthG § 60a
Auszüge:

[...]

1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht ist der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs (P. Schmidt in Eyermann, 12. Aufl. 2006, RdNrn. 39 ff. zu § 166; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 68. Aufl. für 2010, RdNrn. 82 f. zu § 114 und RdNrn. 5 f. zu § 119 m.w.N.). Über das Prozesskostenhilfegesuch des Klägers konnte nach dem 6. April 2009, dem Tag des Eingangs der Klageschrift vom 31. März 2009 mit dem Prozesskostenhilfegesuch einschließlich aller notwendigen Anlagen bei dem Verwaltungsgericht, ohne weiteres Zuwarten entschieden werden. Angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles kam es für diese Entscheidung auf die Stellungnahme des Beklagten nicht an (vgl. § 118 Abs. 1 S. 1 ZPO). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach entschieden, dass die streitgegenständliche Nebenbestimmung ("die Duldung erlischt, sobald ein gültiges Rückreisedokument vorliegt und/oder die Abschiebung möglich ist") infolge Unbestimmtheit rechtswidrig ist (Beschlüsse vom 21.12.2006 Az. 24 CS 06.2958, vom 3.3.2008 Az. 19 C 07.2848 und vom 13.3.2008 Az. 19 C 07.2847); auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Dezember 2006 hat die Klageschrift ausdrücklich Bezug genommen. Dem Kläger ist erst am 5. Mai 2009 eine Duldung ohne die streitgegenständliche Nebenbestimmung erteilt worden. Da das Prozesskostenhilfegesuch somit schon vor dem Eintritt des erledigenden Ereignisses im positiven Sinne entscheidungsreif gewesen ist, kam - wie bereits vom Verwaltungsgericht erwogen - eine rückwirkende Bewilligung in Betracht.

2. Zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife ist die Klage zulässig gewesen, wobei es nicht darauf ankommt, ob die inmitten des Rechtsstreits stehende auflösende Bedingung eine selbstständige oder eine unselbstständige Nebenbestimmung darstellt.

a) Der Kläger hat mit der Feststellungsklage keine unzulässige Klageart gewählt. Zwar kann eine Feststellungsklage grundsätzlich nicht erhoben werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können (vgl. § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO). Die Verweisung auf eine Gestaltungs- oder Verpflichtungsklage setzt jedoch voraus, dass der Kläger durch sie einen der Feststellungsklage in Reichweite und Effektivität mindestens gleichwertigen Rechtsschutz erhält. Bei Rechtsverhältnissen, die wiederholt auftreten, also bei solchen Rechten und Pflichten, deren Bestehen oder Nichtbestehen nicht nur einmalig von Interesse sind, ist dies nicht der Fall (Happ in Eyermann a.a.O. RdNrn. 32 f., Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, RdNrn. 122 f., Pietzcker in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, RdNrn. 47 ff., Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, RdNrn. 26 ff., jeweils zu § 43). Die Frage der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Nebenbestimmung tritt vorliegend wiederholt auf, weil dem Kläger Duldungen mit einer Laufzeit von jeweils nur wenigen Monaten erteilt werden und sich die auflösende Bedingung ausschließlich auf die jeweilige Duldung bezieht, der sie beigefügt ist; die Ausländerbehörde entscheidet bei jeder Duldungserteilung neu über die Voraussetzungen des Erlöschens der Duldung. Eine Verweisung des seit mehreren Jahren geduldeten Klägers auf die Anfechtungs- bzw. die Verpflichtungsklage würde ihn schon binnen eines Jahres zu mehreren Klagen nötigen mit der Folge eines unverhältnismäßigen Verfahrens- und Kostenaufwandes; Entscheidungen mit Bindungswirkung für die nächstfolgende Duldung ergäben sich daraus gleichwohl nicht.

Eine Umgehung der Verfahrens- und Fristerfordernisse der Anfechtungsklage bzw. der Verpflichtungsklage (ein Bedenken, das den zentralen Grund der Regelung des § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO bildet, vgl. BVerwG vom 27.10.1970 BVerwGE 36, 179, 181), ist vorliegend nicht zu besorgen. Der Duldung ist eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht beigefügt; die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO war bei Klageerhebung nicht verstrichen. Bei dieser Sachlage wäre selbst dann, wenn - wie das Verwaltungsgericht in seinem Einstellungsbeschluss vom 15. Juli 2009 meint - der Kläger Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage hätte erheben müssen, keine unbehebbar unzulässige Klage gegeben, sondern ein richterlicher Hinweis (vgl. § 86 Abs. 3 VwGO) auf die zutreffende Klageart angezeigt gewesen.

b) Es steht nicht mit der für eine Verneinung der Erfolgsaussicht erforderlichen Richtigkeitsgewähr fest, dass der Kläger die Beseitigung der rechtswidrigen Nebenbestimmung auf anderem Wege einfacher hätte erreichen können (zum Rechtsschutzbedürfnis vgl. Rennert in Eyermann a.a.O. RdNrn. 12 ff. vor § 40). Er hat zwar - annähernd gleichzeitig mit mindestens vier weiteren vom Bevollmächtigten des Klägers vertretenen geduldeten Ausländern, deren Beschwerdeverfahren dem Senat vorliegen - Klage erhoben, ohne vorher gegenüber der Behörde die Nebenbestimmung zu beanstanden. Vorliegend kommt den hierdurch aufgeworfenen Fragen jedoch keine Bedeutung zu, weil viel dafür spricht, dass ein an die Beklagte gerichteter Antrag nicht zur Abhilfe geführt hätte (maßgeblich ist der ex-ante-Standpunkt, vgl. Olbertz in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner a.a.O. RdNr. 9 zu § 156). Die Beklagte hat die streitgegenständliche auflösenden Bedingung der Duldun beigefügt, obgleich die Nebenbestimmung in dieser Fassung nach der seit mehreren Jahren unveränderten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. Nr. 1) und nach der überwiegenden Literaturauffassung (vgl. Funke-Kaiser a.a.O. RdNrn. 93 ff. zu § 60a; Hailbronner, Ausländerrecht, RdNr. 21 zu § 61) rechtswidrig ist. In ihrer Klageerwiderung vom 8. Mai 2009 hat die Beklagte die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Nebenbestimmung allenfalls zögerlich eingeräumt und zwar ihre Abhilfeentscheidung mitgeteilt, gleichwohl aber aus (wenig überzeugenden, vgl. auch Nr. 2a) prozessualen und materiellen Gründen die Auffassung vertreten, die Klage hätte keinen Erfolg haben können. [...]