VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 28.10.2009 - A 3 K 3233/08 - asyl.net: M16476
https://www.asyl.net/rsdb/M16476
Leitsatz:

In der Provinz Bagdad liegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein bewaffneter Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 Bst. c QRL vor. Lehrer sind besonders gefährdet. Die Klägerin weist zudem individualisierende Merkmale auf, welche sich derart verdichten, dass ein Abschiebungsverbot besteht.

Schlagwörter: Zentralirak, Zustellung, Postzustellungsurkunde, Gemeinschaftseinrichtung, Niederlegung, Hausmeister, Klagefrist, Ersatzzustellung, Abschiebungsverbot, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, ZPO § 178 Abs. 1 Nr. 3, AsylVfG § 74 Abs. 1, VwZG § 3 Abs. 2, ZPO § 180, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere nicht verfristet gem. § 74 Abs. 1 AsylVfG, denn der angefochtene Bescheid wurde der Klägerin nicht ordnungsgemäß zugestellt. Eine Ersatzzustellung durch die Post im Wege der Niederlegung - wie sie vorliegend erfolgte - ist gem. § 3 Abs. 2 VwZG i.V.m. § 181 Abs. 1 ZPO nur dann zulässig, wenn eine Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO oder § 180 ZPO nicht ausführbar ist. Gem. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO kann ein Schriftstück in Gemeinschaftseinrichtungen dem Leiter der Einrichtung oder einem dazu ermächtigten Vertreter zugestellt werden. Das von der Klägerin bewohnte Wohnheim stellt eine Gemeinschaftsunterkunft im Sinne dieser Vorschrift dar. Wie das Gericht im Rahmen seiner Aufklärungsverfügungen ermittelt hat, wurde im Fall der Zustellung des hier angefochtenen Bescheides keine Ersatzzustellung an die anwesenden Heimleiterin sowie den ebenfalls anwesenden und zustellungsberechtigten Sozialarbeiter versucht. Die gem. § 181 Abs. 1 ZPO durchgeführte Ersatzzustellung mittels Niederlegung war somit rechtswidrig. [...]

In der Person der Klägerin liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG vor.

Nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG und Art. 15 lit. c) QRL ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG und Art. 15 lit. c) QRL muss sich nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Gemeint sind damit bewaffnete Konflikte, die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und den abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen. [...]

Das Gericht geht davon aus, dass in der Provinz Bagdad zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein bewaffneter Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG und Art. 15 lit. c) QRL vorliegt (ebenso: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.06.2007 - A 2 S 863/06 -, S. 10 des Umdrucks, nicht veröffentlicht). Das Gericht stützt seine Annahme im Wesentlichen auf die bisherigen Lageberichte des Auswärtigen Amtes zur Situation im Irak (zuletzt vom 12.08.2009) und die Information des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge "Irak: zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte" vom Februar 2009. Danach überlagern sich im Irak mehrere ineinander greifende Konflikte: der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische; Terroranschläge gegen die Zivilbevölkerung; konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen sowohl zwischen den großen Bevölkerungsgruppen als auch mit den Minderheiten sowie Kämpfe zwischen Milizen um Macht und Ressourcen. Die Sicherheitslage wird in erheblichem Ausmaß von verschiedenen radikalen und militanten Gruppierungen - Terrororganisationen, Milizen und sonstigen oppositionellen Kämpfern - bestimmt (AA, Lagebericht vom 12.08.2009, S. 5, 10 f.). Angesichts dessen geht das Gericht davon aus, dass sowohl die in Bagdad verübten Terroranschläge und sonstigen Kampfhandlungen als auch ein Großteil der Todesfälle durch Schusswaffengebrauch - die mit Abstand häufigste gewaltsame Todesursache im Irak (BAMF "Irak: Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte", Stand Februar 2009, S. 3) - durch die oben genannten Gruppierungen verübt werden und damit über das Maß von im Rahmen des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG wohl nicht berücksichtigungsfähiger krimineller Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.06.2008, a.a.O., Juris-Rdnr. 24) hinausgehen. Die Sicherheitslage im Irak allgemein bezeichnet das Auswärtige Amt in seinem jüngsten Lagebericht vom August 2009 noch immer als verheerend, auch wenn seit Frühsommer 2007 die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle um ca. 80 % abgenommen habe. Derzeit kommt es danach wöchentlich zu über 100 Anschlägen, bei denen zwischen 100 und 200 Todesopfer zu beklagen sind. Schwerpunkt der terroristischen Anschläge bleiben weiterhin Bagdad und der Zentralirak. Weiter bleibt die Menschenrechtslage prekär. Auch wenn nach wie vor Soldaten, Sicherheitskräfte sowie Politiker, Offiziere und Ausländer das Hauptanschlagsziel der Terroristen sind, trägt die weitgehend ungeschützte Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast. Die Schätzungen und Zählungen über die Opfer in der Zivilbevölkerung gehen weit auseinander. Offizielle Schätzungen zur Zahl der zivilen Opfer gibt es von amerikanischer oder irakischer Seite aus grundsätzlichen Erwägungen nicht. Belastbare Zahlen liegen nicht vor; die Opferzahl muss bei mehreren 10.000 Zivilisten liegen. Hinzu kommt, dass der Staat nicht dazu in der Lage ist, die Sicherheit der Zivilbevölkerung und die Ausübung der in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu ermöglichen. Die Behörden sind vielerorts nicht in der Lage (oder willens), für Recht und Ordnung zu sorgen. Angehörige von Minderheiten sowie bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder bestimmter Berufsgruppen laufen daher Gefahr, diskriminiert, vertrieben oder gar ermordet zu werden, wohingegen die Täter meist nicht mit Strafe zu rechnen haben. Polizisten, Soldaten, Intellektuelle, alle Mitglieder der Regierung bzw. Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, sind besonders gefährdet. Auch Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden regelmäßig Opfer von gezielten Anschlägen. Friseure, Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird, Zivilisten, die für internationale Regierungs- oder Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten und Ärzte bzw. medizinisches Personal geraten ins Visier der Aufständischen. Dabei sind die Attentäter in der Lage, ihre Opfer sehr präzise auszuwählen und zu treffen. Gerade in Bagdad ist die Sicherheitslage besonders prekär. So werden auf den Straßen regelmäßig Tote mit Folterspuren gefunden (vgl. AA, Lagebericht vom 12.08.2009, S. 5). Der genannten Information des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, die auf die Angaben der Organisation Iraq Body Count (IBC) zurückgeht, die eine der detailliertesten öffentlich erhältlichen Datensammlungen darstellen dürfte, ist zu entnehmen, dass es im Jahr 2008 in Bagdad 2.914 Tote bei 784 Vorfällen gab, was 50 Toten je 100.000 Einwohnern im Jahr 2008 entspricht. Dabei betreffen diese Angaben nur Zivilisten. Zu berücksichtigen ist bei dieser Datensammlung, dass geringere Menschenrechtsverletzungen als Tötungen, also Verwundungen, Entführungen, Vergewaltigungen, Erpressungen und ähnliche Verbrechen, nicht aufgeführt sind. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass diese Straftaten in den Gebieten mit vielen gewaltsamen Todesfällen häufiger vorkommen als in den weniger unsicheren Gebieten. Eine Vielzahl von Anschlägen indiziert dabei eine schlechtere Sicherheitslage, da sie auf ein größeres Gewaltpotential in der Provinz hindeuten. Bagdad ist unter den irakischen Provinzen mit weitem Abstand die Provinz mit den meisten Anschlägen und weist zudem die weit meisten Anschläge pro Kopf der Bevölkerung auf. Die Sicherheitslage in Bagdad, die sich seit den weitgehend friedlich verlaufenden landesweiten Provinzwahlen Anfang des Jahres zu stabilisieren schien (vgl. FAZ v. 9.3.2009; International Herald Tribune v. 24.04.2009), hat sich seit dem Abzug der amerikanischen Truppen aus den irakischen Städten am 30.06.2009 wieder verschlechtert. So ist eine erneute Welle der Gewalt mit hunderten von Todesopfern allein im Monat August zu verzeichnen, die von Beobachtern als schwerer Rückschlag für die Bemühungen um eine Stabilisierung des Landes gewertet wird (vgl. SZ v. 18.08.2009; Die Welt v. 20.08.2009; FR v. 31.08.2009; NZZ v. 01.09.2009). Im Hinblick auf die im Januar 2010 angesetzte zweite nationale Parlamentswahl, für die insbesondere noch eine umstrittene Änderung des Wahlgesetzes erforderlich ist, ist mit einer weiteren Eskalation der Gewalt zu rechnen. Zuletzt erfolgte am 25.10.2009 ein Anschlag auf das Justizministerium, bei dem mindestens 140 Menschen getötet und mindestens 700 verletzt wurden (vgl. Artikel des Tagesspiegel vom 25.10.2009, www.tagesspiegel.de/politik/international/Anschlag-Bagdad-Irak;art123,2932344).

Das Gericht geht weiter davon aus, dass die Klägerin individualisierende Merkmale aufweist, aufgrund derer sich die allgemein in Bagdad herrschende Gefahr für die Zivilbevölkerung in ihrer Person jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt individuell verdichtet. Dies folgt zu einem aus dem Umstand, dass sie bei einer Rückkehr als Tochter eines Repräsentanten des früheren Regimes in herausgehobener Weise potentielles Ziel von Racheakten wäre. Darüber hinaus erachtet das Gericht die Schilderung der Umstände der Ermordung des Vaters der Klägerin durch ihre Stiefmutter im Verfahren A 3 K 3101/08 - für deren Einzelheiten auf die dortige Sitzungsniederschrift verwiesen wird - für glaubhaft. Die Stiefmutter berichtete von den Ereignissen in der mündlichen Verhandlung detailliert und mit starker emotionaler Beteiligung. Für die Richtigkeit ihrer Schilderung spricht im Übrigen der Umstand, dass der von ihr vorgelegte Totenschein die Erschießung ihres Ehemannes nachweist. Die Klägerin im vorliegenden Verfahren war zwar - anders als ihre Stiefmutter - nicht selbst Augenzeugin der Ermordung ihres Vaters. Dass die Mörder des Vaters aber auch eine Bedrohung für die Kinder des Ermordeten darstellen, ergibt sich hinreichend deutlich daraus, dass der Stiefbruder der Klägerin entführt und mutmaßlich ermordet wurde. Eine individuelle Verdichtung der allgemeinen Gefahr folgt schließlich daraus, dass die Klägerin als alleinstehende junge Frau mit nur schwacher familiäre Anbindung in Gestalt zweier Tanten und eines Onkels in besonderem Maße den in Bagdad derzeit herrschenden Verhältnisse schutzlos ausgeliefert wäre (vgl. zu den Einzelheiten VG Karlsruhe, Urt. v. 10.12.2008 - A 3 K 548/07 -, juris). Schließlich sehen sich im Irak Lehrer besonderen Gefahren ausgesetzt, viele Schulen werden bombardiert (vgl. Amnesty International, Report 2009, Artikel Irak). Die Klägerin ist zwar noch in der Ausbildung zur Lehrerin. Sollte sie in Bagdad weiterhin ihre bisherige Ausbildung verfolgen, so wäre sie aber zumindest im Rahmen praktischer Ausbildungselemente vergleichbaren Gefahren wie bereits examinierte Lehrer ausgesetzt. [...]