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BVerwG, Urteil vom 22.10.2009 - 1 C 15.08 - asyl.net: M16477
https://www.asyl.net/rsdb/M16477
Leitsatz:

Zum Wiederaufgreifen einer gerichtlich bestätigten, rechtskräftigen Ausweisung.

Schlagwörter: Ausweisung, Befristung, Rechtskraft, Rechtskraftbindung, Rücknahme, Widerruf, Wiederaufnahme, zwingender Wiederaufgreifensgrund, Ermessen, Änderung der Rechtslage, Änderung der Sachlage, Änderung der Rechtsprechung, Wiederaufgreifen im weiteren Sinne, Antragsfrist, Vorabentscheidung, Vorlagepflicht, Zweitbescheid, Abschiebungsandrohung, Gefahr für Leib und Leben
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 20 Abs. 3, AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 8, EG Art. 10, EG Art. 234, ARB 1/80 Art. 7, ARB 1/80 Art. 14, RL 64/221/EWG Art. 9
Auszüge:

1. Eine Durchbrechung der Rechtskraft im Wege des Wiederaufgreifens nach § 51 Abs. 5 LVwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 LVwVfG erfordert zunächst eine Positiventscheidung der Behörde zum Wiederaufgreifen (Stufe 1). Erst wenn eine solche Entscheidung getroffen ist, wird der Weg für eine erneute Sachentscheidung eröffnet (Stufe 2). Auf dieser zweiten Stufe ist die Behörde nicht auf die in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG und § 49 Abs. 1 LVwVfG normierten Möglichkeiten der Aufhebung des Verwaltungsakts ex tunc oder ex nunc beschränkt, sondern sie hat zu entscheiden, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen, geändert oder im Wege eines Zweitbescheids bestätigt werden soll.

2. Die Behörde handelt im Fall einer rechtskräftig bestätigten Ausweisung grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 LVwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 LVwVfG im Hinblick auf die rechtskräftige Bestätigung ihrer Entscheidung ablehnt. In diesen Fällen bedarf es regelmäßig keiner weiteren ins Einzelne gehenden Ermessenserwägungen.

(Amtliche Leitsätze)

[...]

2.1 Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme der Ausweisung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nachdem der Kläger die Ausweisungsverfügung gerichtlich angefochten und das Verwaltungsgericht deren Rechtmäßigkeit rechtskräftig bestätigt hat, steht zwischen den Beteiligten - ungeachtet der tatsächlichen Rechtslage - bindend fest, dass die Ausweisung im für die gerichtliche Überprüfung maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz rechtmäßig war. Gemäß § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden ist. Wie der Senat in seinem Urteil vom selben Tag in der Sache BVerwG 1 C 26.08 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) im Einzelnen ausgeführt hat, kann die Rechtskraftbindung des § 121 VwGO nur auf gesetzlicher Grundlage überwunden werden. Dies ist der Fall, wenn der Betroffene nach § 51 LVwVfG einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hat oder die Behörde das Verfahren im Ermessenswege wieder aufgreift (vgl. nachfolgend 2.2 bis 2.4). Solange diese Voraussetzungen - wie hier - nicht vorliegen, steht § 121 VwGO einer Rücknahme der Ausweisung entgegen.

2.2 Mit Recht ist das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG für einen gesetzlichen Anspruch auf Wiederaufgreifen des (Ausweisungs-)Verfahrens nicht vorliegen. [...]

b) Ohne Erfolg beruft sich der Kläger auch auf eine Änderung der Rechtsprechung hinsichtlich der sich aus dem Gemeinschaftsrecht und aus Art. 8 EMRK ergebenden Anforderungen an die Ausweisung eines seit seiner Jugend in Deutschland lebenden assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen und damit zumindest sinngemäß auf den Wiederaufgreifensgrund einer Änderung der Rechtslage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG.

Denn die nachträgliche Klärung gemeinschaftsrechtlicher Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und eine hierauf beruhende Änderung der höchstrichterlichen nationalen Rechtsprechung - hier zu den Ausweisungsvoraussetzungen für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige - als auch die zwischenzeitliche Konkretisierung der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts haben nicht zu einer Änderung der Rechtslage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG geführt. Eine solche verlangt eine Änderung im Bereich des materiellen Rechts, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt. Sie liegt hier jedoch nicht vor. Eine Änderung der Rechtsprechung führt demgegenüber eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich nicht herbei. Vielmehr bleibt die gerichtliche Entscheidungsfindung grundsätzlich eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung (vgl. hierzu das Urteil des Senats vom selben Tag in der Sache BVerwG 1 C 26.08). [...]

2.3 Das Berufungsgericht hat aber verkannt, dass der Kläger einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung seines Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48 und 49 LVwVfG (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne) hat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde - auch wenn die in § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen - ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen zugunsten des Betroffenen wiederaufgreifen und eine neue - der gerichtlichen Überprüfung zugängliche - Sachentscheidung treffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Diese Möglichkeit des Wiederaufgreifens findet ihre Rechtsgrundlage in § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48 und 49 LVwVfG (vgl. Urteil vom 7. September 1999 - BVerwG 1 C 6.99 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 20 S. 16; Urteil vom 21. März 2000 - BVerwG 9 C 41.99 - BVerwGE 111, 77 82>). In Fällen, in denen - wie hier - ein Verwaltungsakt gerichtlich bestätigt worden ist, bedarf es zur Überwindung der Rechtskraft einer gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 1988 - 2 BvR 260/88 - NVwZ 1989, 141). Diese findet sich - außerhalb der in § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG geregelten zwingenden Wiederaufgreifensgründe - in § 51 Abs. 5 LVwVfG. Die dort verankerte Ermächtigung der Behörden, ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren im Ermessenswege wiederaufzugreifen (vgl. Gesetzesbegründung zu § 47 Abs. 5 VwVfG-E <heute: § 51 Abs. 5 VwVfG> BTDrucks 7/910 S. 75), ermöglicht auch bei rechtskräftig bestätigten Verwaltungsakten die nachträgliche Korrektur inhaltlich unrichtiger Entscheidungen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. September 2007 - 2 BvR 1613/07 - InfAuslR 2008, 94; BVerwG, Urteil vom 7. September 1999 a.a.O. S. 16).

Eine Durchbrechung der Rechtskraft erfordert aber zunächst eine Positiventscheidung der Behörde zum Wiederaufgreifen (Stufe 1), sei es weil ein zwingender Wiederaufnahmegrund - z.B. nach § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG - vorliegt, sei es weil die Behörde sich im Wege ihres Wiederaufgreifensermessens nach § 51 Abs. 5 LVwVfG hierzu entscheidet. Erst wenn eine solche Positiventscheidung getroffen ist, wird der Weg für eine erneute Sachentscheidung eröffnet (Stufe 2). Auf dieser zweiten Stufe ist die Behörde nicht auf die in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG und § 49 Abs. 1 LVwVfG normierten Möglichkeiten der Aufhebung des Verwaltungsakts ex tunc oder ex nunc beschränkt, sondern sie hat zu entscheiden, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen, geändert oder im Wege eines Zweitbescheids bestätigt werden soll (vgl. Urteil vom 7. September 1999 a.a.O. S. 16, das insoweit auf die Möglichkeit zum Erlass eines Zweitbescheides hinweist; ähnlich Urteil vom 23. Juli 1980 - BVerwG 8 C 90.79 - BVerwGE 60, 316 325>, wonach das Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 LVwVfG auf "Rücknahme, gegebenenfalls Widerruf eines Verwaltungsakts und möglicherweise Neuerlass eines anderen" zielt).

Mit der Befugnis der Behörde, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verwaltungsverfahren im Ermessenswege wiederaufzugreifen, korrespondiert ein - gerichtlich einklagbarer (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) - Anspruch des Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. September 2007 a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 a.a.O.). Dabei handelt die Behörde im Falle einer rechtskräftig bestätigten Ausweisung grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie ein Wiederaufgreifen im Hinblick auf die rechtskräftige Bestätigung ihrer Entscheidung ablehnt. In diesen Fällen bedarf es regelmäßig keiner weiteren ins Einzelne gehenden Ermessenserwägungen der Behörde.

Der Beklagte hat im vorliegenden Fall sein Ermessen über das Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48 und 49 LVwVfG weder ausdrücklich noch konkludent ausgeübt. [...]

a) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung des Beklagten zur Überprüfung der nach innerstaatlicher Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftigen Ausweisung nicht vorliegen. Die vom Gerichtshof in der Rechtssache "Kühne & Heitz" (Urteil vom 13. Januar 2004 - Rs. C-453/00 - Slg. 2004, I-00837) aufgestellten und in der Rechtssache "Kempter" (Urteil vom 12. Februar 2008 - Rs. C-2/06 - Slg. 2008, I-00411) weiter konkretisierten Voraussetzungen für die Überprüfung einer nach innerstaatlicher Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftigen, aber gemeinschaftswidrigen Verwaltungsentscheidung liegen nicht vor. Es fehlt jedenfalls an einer Verletzung der Verpflichtung zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs nach Art. 234 Abs. 3 EG im vorangegangenen Anfechtungsprozess. Denn ein Verstoß gegen die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof nach Art. 10 EG liegt nur dann vor, wenn der gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkt, dessen Auslegung sich in Anbetracht eines späteren Urteils des Gerichtshofs als unrichtig erwiesen hat, von dem in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gericht entweder geprüft wurde oder von Amts wegen hätte aufgegriffen werden können. Das Gemeinschaftsrecht gebietet den nationalen Gerichten nicht, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zu prüfen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die von den Parteien bestimmten Grenzen des Rechtsstreits überschreiten müssten. Sie müssen die rechtlichen Gesichtspunkte, die sich aus einer zwingenden Gemeinschaftsvorschrift ergeben, aber von Amts wegen aufgreifen, wenn sie nach dem nationalen Recht verpflichtet oder berechtigt sind, dies im Falle einer zwingenden Vorschrift des nationalen Rechts zu tun (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008 a.a.O. Rn. 44 und 45).

Letztinstanzliches nationales Gericht bei der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisungsverfügung war hier nicht das Verwaltungsgericht, sondern der Verwaltungsgerichtshof. Denn gegen das abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts gab es die Möglichkeit, einen Antrag auf Zulassung der Berufung zu stellen, die der Kläger auch genutzt hat (im Ergebnis ebenso Beschluss vom 20. März 1986 - BVerwG 3 B 3.86 - NJW 1987, 601). Erst der die Zulassung der Berufung ablehnende Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs konnte nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden. Der Verwaltungsgerichtshof verstieß mit seiner damaligen Entscheidung aber nicht gegen die Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG. Den Antrag auf Zulassung der Berufung hatte der Kläger zwar auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts gestützt, in diesem Zusammenhang aber keine gemeinschaftsrechtlichen Bedenken geltend gemacht. Mangels Darlegung eines auf das Gemeinschaftsrecht bezogenen Zulassungsgrundes prüfte der Verwaltungsgerichtshof daher bei seiner Entscheidung nicht die Vereinbarkeit der Ausweisung mit Gemeinschaftsrecht und war hierzu nach nationalem Prozessrecht auch weder berechtigt noch verpflichtet.

b) Nach nationalem Recht liegt ebenfalls kein Fall vor, in dem sich das Wiederaufgreifensermessen so verdichtet hat, dass nur ein Wiederaufgreifen des Verfahrens ermessensfehlerfrei wäre. Insoweit trifft die Bewertung des Berufungsgerichts im Ergebnis zu, dass die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung nicht schlechthin unerträglich wäre.

(aa) Eine derartige Unerträglichkeit kann sich aus einer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit des die Ausweisung bestätigenden Urteils ergeben. In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob die Ausweisung aus den vom Kläger geltend gemachten Gründen tatsächlich (gemeinschafts-)rechtswidrig war. Denn es fehlt - bezogen auf den Zeitpunkt des die Ausweisung bestätigenden Urteils des Verwaltungsgerichts - jedenfalls an einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit der gerichtlichen Entscheidung.

Zwar dürfte davon auszugehen sein, dass der seit dem Alter von 10 Jahren in Deutschland aufgewachsene Kläger, der länger als fünf Jahre bei seinem als Arbeitnehmer beschäftigten Vater lebte, nach Art. 7 ARB 1/80 ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben hat. Damit hätte das Verwaltungsgericht auf den Kläger die für die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger entwickelten Grundsätze übertragen müssen (vgl. Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 316 320>). Dies hätte in verfahrensrechtlicher Hinsicht zur Folge gehabt, dass der Kläger nur unter Beachtung des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG hätte ausgewiesen werden dürfen. Danach bedarf es bei Ausweisungen grundsätzlich der Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde ("Vier-Augen-Prinzip", vgl. dazu Urteile vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 221 ff.> und vom 9. August 2007 - BVerwG 1 C 47.06 - BVerwGE 129, 162 170 f.>). Dass dies nicht geschehen ist, begründet hier aber keine offensichtliche Fehlerhaftigkeit des die Ausweisung bestätigenden Urteils. Denn die Konsequenzen der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens mit Blick auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG waren bei Erlass des die Ausweisungsverfügung bestätigenden verwaltungsgerichtlichen Urteils jedenfalls nicht evident. Dass die verfahrensrechtlichen Mindestgarantien des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG über die von den Verwaltungsgerichten gewährleistete Prüfung aller Tat- und Rechtsfragen unter Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung hinaus eine „erschöpfende Prüfung ... einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme“ gewährleisten sollten, wurde erst mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 in den Rechtssachen "Orfanopoulos und Oliveri" (EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01 - Slg. 2004, I-05257 Rn. 103 ff.) deutlich (vgl. Urteil vom 20. März 2008 - BVerwG 1 C 33.07 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 5). [...]

Die Ausweisung des Klägers ist schließlich - bezogen auf den Zeitpunkt der sie bestätigenden gerichtlichen Entscheidung - auch nicht im Hinblick auf Art. 8 EMRK offensichtlich unverhältnismäßig. Art. 8 EMRK schützt das Recht auf Achtung des Familien- und des Privatlebens. In diese Rechte können die Vertragsstaaten nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eingreifen, soweit die gewählte Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, also durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt wird und mit Blick auf die verfolgten legitimen Ziele auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - NVwZ 2007, 946 m.w.N.). In diesem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt festgestellt, dass Art. 8 EMRK auch im Gastland geborenen und aufgewachsenen Ausländern der zweiten Generation kein absolutes Bleiberecht gewährt. Entsprechend hat er in der Vergangenheit zwar in einigen Fällen dieser Art eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt, in einem beachtlichen Teil der Fälle eine Verletzung hingegen abgelehnt. Dabei wies die Rechtsprechung lange Zeit stark kasuistische Züge auf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 - NVwZ 2004, 852 m.w.N.). Ob ein Ausländer der zweiten Generation ausgewiesen werden kann, ist letztlich anhand einer einzelfallbezogenen Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers und deren Abwägung gegeneinander zu ermitteln. Dabei sind die vom Menschenrechtsgerichtshof inzwischen entwickelten Kriterien zu beachten (vgl. insbesondere EGMR, Urteile vom 2. August 2001 - 54273/00 - Boultif, InfAuslR 2001, 476, vom 5. Juli 2005 - 46410/99 - Üner, InfAuslR 2005, 450 und vom 23. Juni 2008 - 1638/03 - Maslov II, InfAuslR 2008, 333). Dass diese Abwägung hier nur zu Gunsten des Klägers hätte ausfallen dürfen, war bei Abweisung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung nicht evident. Zu Lasten des Klägers waren vor allem die Art und die Schwere der von ihm begangenen Straftat (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen) und die dadurch von ihm ausgehende Gefahr für die Gesellschaft zu berücksichtigen. Die seinerzeitige Gefahrenprognose hat sich im Übrigen nachträglich insofern bestätigt, als der Kläger im März 2003 erneut wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (dieses Mal in 23 Fällen) zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. [...]

Sollte der Beklagte im Rahmen der Neubescheidung ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 5 LVwVfG ablehnen, wird er über das Hilfsbegehren des Klägers auf Widerruf der Ausweisungsverfügung zu entscheiden haben. Dabei wird zu beachten sein, dass die Berücksichtigung von Änderungen der Sachlage einer Bescheidung im Rahmen der Befristung nach § 11 AufenthG vorbehalten ist (vgl. Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - Rn. 13 = BVerwGE 129, 243 246 f.>). Hingegen können Änderungen der Rechtsprechung, die zu einer Neubewertung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung führen, im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Widerruf berücksichtigt werden. In die Ermessensentscheidung wird auch einzustellen sein, dass der Widerruf der Korrektur noch nicht vollstreckter Verwaltungsentscheidungen - wie hier - dienen kann, wenn sie bei Zugrundelegung der heutigen Auslegung der Rechtslage so nicht mehr erlassen werden könnten. [...]