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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 06.01.2010 - 5091474-150 - asyl.net: M16484
https://www.asyl.net/rsdb/M16484
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, da effektive Behandlungsmöglichkeiten der schweren Posttraumatischen Behandlungsstörung im Kosovo grundsätzlich nicht zur Verfügung stehen.

Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungsverbot, Posttraumatische Belastungsstörung, Wiederaufgreifensantrag
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die für den Wiederaufgreifensantrag angegebene Begründung führt zu einer für die Antragstellerin günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich des Kosovo auszugehen ist.

Das Bundesamt stellte seinerzeit kein Abschiebungshindernis gem. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG fest, weil die Antragstellerin für sich ein solches nicht geltend machte. Dieses geschah erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Das VG Braunschweig wies die Klage ab, weil es seinerzeit zu Recht die Antragstellerin auf Behandlungsmöglichkeiten in Serbien oder Montenegro verweisen konnte. Zwar besteht diese Möglichkeit bezogen auf Serbien grundsätzlich auch noch nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17.02.2008, da davon auszugehen ist, dass sie (auch) die serbische Staatsangehörigkeit besitzt. Voraussetzung für den Zugang zu einer medizinischen Behandlung ist jedoch eine dortige Registrierung, die unter Berücksichtigung aller Umstände und mit Blick auf die Gesamtsituation der Familie schwerlich zu erlangen sein wird.

Die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung in Kosovo wird derzeit durch ein öffentliches, dreistufiges Gesundheitssystem gewährleistet. Die Wiederherstellung einer umfassenden medizinischen Versorgung durch das öffentliche Gesundheitssystem ist für die Regierung prioritär, schreitet aber nur langsam voran.

Vorliegend ist nach allen fachärztlichen Ausführungen davon auszugehen, dass die Erkrankung so schwerwiegend ist, dass bei Rückkehr eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes konkret droht. Momentan ist noch davon auszugehen, dass effektive Behandlungsmöglichkeiten für diese Erkrankung im Kosovo grundsätzlich nicht zur Verfügung stehen. Nach derzeitigem Wissensstand ist eine rein medikamentöse Therapie der schweren PTBS nicht hinreichend effektiv hinsichtlich der Vermeidung einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben. PTBS wird im Kosovo jedoch vorrangig medikamentös behandelt. Das Angebot an Therapiemöglichkeiten ist äußerst begrenzt.

Hinzu tritt, dass von den für die Antragstellerin erforderlichen Medikamenten (s.o.) lediglich Risperidon als Basismedikament im Kosovo erhältlich ist. Alle anderen sind auch nicht im Regelsortiment privater Apotheken - auch nicht wirkstoffgleiche - enthalten (Auskünfte Deutsche Botschaft vom 19.11.2008 und 17.08.2009).

Letztlich ist die Situation der gesamten Familie in den Blick zu nehmen. Diese stellt sich der amtsärztlichen Stellungnahme vom 20.02.2007 und nach dem sonstigen Akteninhalt wie folgt dar:

Der Ehemann (kein Asyl - oder Wiederaufgreifensantrag gestellt) der Antragstellerin leidet an einem Kieferknochenkrebs. Nach Oberkieferhalbseitenresektion und Rekonstruktion ist Tumornachsorge erforderlich. Ein Behinderungsgrad von 30 % wurde festgestellt.

Ein Sohn der Antragstellerin leidet an einer schweren Herzkrankheit, die eine vermutlich lebenslange Medikation erfordert, wobei es letztendlich jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit zu kardialen Problemen kommt.

Ein 1995 geborener Sohn der Antragstellerin (kein Antrag gestellt) ist geistig behindert und bedarf der ständigen Beaufsichtigung.

In der amtsärztlichen Stellungnahme vom 20.02.2007 (im Falle des Sohnes - Az.: 5091440-150) wird ausgeführt:

"Zusammenfassend lässt sich festhalten, das durch die schweren Erkrankungen von Herrn ..., Frau ... sowie von Herrn ... und die geistige Behinderung von ... sich innerhalb der Familie komplexe Strukturen der Abhängigkeit unter den einzelnen Familienmitgliedern entwickelt haben. Nur im Familienverband sind die einzelnen Familienmitglieder in der Lage, die Folgen ihrer Erkrankungen oder ihrer Behinderung mäßig zu kompensieren. Bei Abschiebung einzelner Familienmitglieder sind schwere gesundheitliche Schäden anderer Familienmitglieder zu erwarten. Eine "Rückführung" der Eheleute sowie der Kinder sollte daher aus ärztlicher Sicht unterbleiben."

In Anbetracht dieser Situation, der zumindest teilweise fehlenden Erwerbsfähigkeit und der hohen Arbeitslosigkeit im Kosovo (für das Jahr 2008 nach offiziellen Statistiken 43,6 %) ist nicht davon auszugehen, dass die Familie ... und damit auch die Antragstellerin dort ihr Überleben sichern könnten. Dies dürfte mit Blick auf die besonderen Bedürfnisse der Familie auch bei Inanspruchnahme der Sozialhilfe nicht möglich sein.

Die Sozialhilfe bewegt sich auf niedrigem Niveau. Seit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2003 gab es keine Anpassungen. Sie beträgt für Einzelpersonen 35 Euro monatlich und für Familien (abhängig von der Zahl der Personen) bis zu 75 Euro monatlich.

Sozialleistungen reichen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse kaum aus (dies gilt im übrigen auch. für Serbien). Das wirtschaftliche Überleben sichert zum einen der Zusammenhalt der Familien, zum anderen die in Kosovo ausgeprägte zivilgesellschaftliche Solidargemeinschaft (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2009).

Hierauf können die Antragstellerin und ihre Familie bedingt durch jahrelange Abwesenheit jedoch nicht zurückgreifen. Die Folge wäre alsbaldige Verelendung. [...]