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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 06.01.2010 - 5091440-150 - asyl.net: M16485
https://www.asyl.net/rsdb/M16485
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Kosovo, da die erforderliche medizinische Behandlung nicht erreichbar ist und auch eine Medikamentenmitgabe oder Kostenübernahme angesichts der schweren Dauererkrankung nicht in Betracht kommt (Herzerkrankung).

Schlagwörter: Kosovo, medizinische Versorgung, Wiederaufgreifensantrag, Herzerkrankung, Medikation, Herztransplantation
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die für den Wiederaufgreifensantrag angegebene Begründung führt zu einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich des Kosovo auszugehen ist.

Das Bundesamt stellte seinerzeit kein Abschiebungshindernis gem. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG fest, weil der Antragsteller trotz entspr. Aufforderung eine erforderliche Medikation nicht nachgewiesen hatte und es insoweit von einer effektiven Behandlungsmöglichkeit im Heimatland auf der Grundlage der vorliegenden Auskünfte ausgehen musste. Das VG Braunschweig wies die Klage ab, weil es seinerzeit zu Recht den Antragsteller auf Behandlungsmöglichkeiten in Serbien oder Montenegro verweisen konnte. Zwar besteht diese Möglichkeit bezogen auf Serbien grundsätzlich auch noch nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17.02.2008, da davon auszugehen ist, dass er (auch) die serbische Staatsangehörigkeit besitzt. Voraussetzung für den Zugang zu einer medizinischen Behandlung ist jedoch eine dortige Registrierung, die unter Berücksichtigung aller Umstände und mit Blick auf die Gesamtsituation der Familie schwerlich zu erlangen sein wird.

Die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung in Kosovo wird derzeit durch ein öffentliches, dreistufiges Gesundheitssystem gewährleistet. Die Wiederherstellung einer umfassenden medizinischen Versorgung durch das öffentliche Gesundheitssystem ist für die Regierung prioritär, schreitet aber nur langsam voran. Die Versorgung bei Operationen bessert sich stetig, ist aber vor allem in der invasiven Kardiologie (z.B. Herzoperationen bei Kleinstkindern, schwere Komplikationen bei Herzerkrankungen), in der Neurochirurgie sowie in der chirurgischen Orthopädie noch eingeschränkt. Eine zunehmende Verbesserung dieser Zustände ist jedoch erkennbar. Derzeit erfolgt der Ausbau der kardiologischen Abteilung des Universitätsklinikums Pristina (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 19.10.2009; 508-516.80/3 KOS). Die fortschreitenden Ausbauarbeiten sind aber immer noch nicht abgeschlossen. Kontrolluntersuchungen bei einer Herzerkrankung sind im öffentlichen Gesundheitssystem von Kosovo möglich, jedoch nur, soweit kein kardiochirurgischer Eingriff indiziert ist. Komplikationen, die einen operativen herzchirurgischen Eingriff notwendig machen, können derzeit weder im öffentlichen noch im privaten Gesundheitswesen von Kosovo behandelt werden (Auskunft Dtsch. Botschaft vom 17.12.2009 - RK 516.80 - 165/09). Solche Komplikationen können vorliegend jedoch insbesondere unter Beachtung der amtsärztlichen Stellungnahme vom 20.02.2007, die sogar eine demnächst erforderlich werdende Herztransplantation darstellt, nicht ausgeschlossen werden, zumal dann nicht, wenn die erforderliche Medikation nicht erlangt werden kann. Von den erforderlichen Medikamenten (s. Arztbrief vom 10.10.2006) ist lediglich Amlodipin im Kosovo erhältlich.

Aus allem folgt, dass wegen Fehlens der notwendigen Medikamente von einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis hin zur Notwendigkeit eines herzchirurgischen Eingriffs, der derzeit im Kosovo noch nicht leistbar ist, ausgegangen werden muss.

Eine Medikamentenmitgabe/Kostenübernahme durch deutsche Sozialhilfeträger kommt vorliegend nicht in Betracht, da sie angesichts der schweren Dauererkrankung - abgesehen von allen Unwägbarkeiten im Krankheitsverlauf - nur zu einer Verschiebung des Gefahreneintritts führen würden. Wann eine den Bedürfnissen des Antragstellers genügende medizinische Versorgung im Kosovo möglich und ihm zugänglich ist, ist nicht absehbar.

Letztlich ist die Situation der gesamten Familie in den Blick zu nehmen. Diese stellt sich der amtsärztlichen Stellungnahme vom 20.02.2007 und nach dem sonstigen Akteninhalt wie folgt dar:

Der Vater (kein Asyl - oder Wiederaufgreifensantrag gestellt) des Antragstellers leidet an einem Kieferknochenkrebs. Nach Oberkieferhalbseitenresektion und Rekonstruktion ist Tumornachsorge erforderlich. Ein Behinderungsgrad von 30 % wurde festgestellt.

Die Mutter des Antragstellers (vgl. Az.: 5091474) leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer dissoziativen Bewegungsstörung (Bewusstseinsstörung), die aktuell fortbesteht. Sie befindet sich seit 2003 durchgehend in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung und wird medikamentös mit Neuroleptika, hoch dosierten Thymoleptika und teilweise auch mit Benzodiazepinen behandelt. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 40 % wurde festgestellt.

Ein 1995 geborener Bruder des Antragstellers (kein Antrag gestellt) ist geistig behindert und bedarf der ständigen Beaufsichtigung.

In der amtsärztlichen Stellungnahme vom 20.02.2007 wird ausgeführt:

''Zusammenfassend lässt sich festhalten, das durch die schweren Erkrankungen von Herrn ..., Frau ... sowie von Herrn ... und die geistige Behinderung von ... sich innerhalb der Familie komplexe Strukturen der Abhängigkeit unter den einzelnen Familienmitgliedern entwickelt haben. Nur im Familienverband sind die einzelnen Familienmitglieder in der Lage, die Folgen ihrer Erkrankungen oder ihrer Behinderung mäßig zu kompensieren. Bei Abschiebung einzelner Familienmitglieder sind schwere gesundheitliche Schäden anderer Familienmitglieder zu erwarten. Eine ''Rückführung" der Eheleute ... sowie der Kinder ... und ... sollte daher aus ärztlicher Sicht unterbleiben.''

In Anbetracht dieser Situation, der zumindest teilweise fehlenden Erwerbsfähigkeit und der hohen Arbeitslosigkeit im Kosovo (für das Jahr 2008 nach offiziellen Statistiken 43,6 %) ist nicht davon auszugehen, dass die Familie ... und damit auch der Antragsteller dort ihr Überleben sichern könnten. Dies dürfte mit Blick auf die besonderen Bedürfnisse der Familie auch bei Inanspruchnahme der Sozialhilfe nicht möglich sein.

Die Sozialhilfe bewegt sich auf niedrigem Niveau. Seit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2003 gab es keine Anpassungen. Sie beträgt für Einzelpersonen 35 Euro monatlich und für Familien (abhängig von der Zahl der Personen) bis zu 75 Euro monatlich.

Sozialleistungen reichen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse kaum aus (dies gilt im übrigen auch für Serbien). Das wirtschaftliche Überleben sichert zum einen der Zusammenhalt der Familien, zum anderen die in Kosovo ausgeprägte zivilgesellschaftliche Solidargemeinschaft (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2009).

Hierauf können der Antragsteller und seine Familie bedingt durch jahrelange Abwesenheit jedoch nicht zurückgreifen. Die Folge wäre alsbaldige Verelendung. [...]