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Zitieren als:
BSG, Beschluss vom 17.06.2008 - B 8 AY 5/07 R - asyl.net: M16491
https://www.asyl.net/rsdb/M16491
Leitsatz:

Grundsatzentscheidung zur Zulässigkeit der Überprüfung bestandskräfitger AsylbLG-Bescheide für einen bis zu vierjährigen rückwirkenden Zeitraum: § 44 SGB X ist auch für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz anwendbar, der Gesetzeswortlaut des § 9 Abs. 3 AsylbLG ist insoweit eindeutig.

Die in der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht entwickelten sog. Strukturprinzipien, nach welchen § 44 SGB X im Bereich des AsylbLG nicht anwendbar sei, können nach Ansicht des BSG nicht dazu genutzt werden, explizite gesetzliche Regelungen in ihr Gegenteil zu kehren. Fehlende Praktikabilität rechtfertige nicht die Abweichung von einer vom Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Regelung.

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, SGB X, Analogleistungen, Überprüfungsantrag, richtige Klageart
Normen: SGB X § 44, AsylbLG § 2 Abs. 1, AsylbLG § 3, AsylbLG § 9 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 21. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2006 (§ 95S GG), soweit der Beklagte darin eine rückwirkende Korrektur der Leistungsbewilligungen für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 2005 abgelehnt hat. Allerdings fehlen Feststellungen dazu, in welcher Form die Leistungsbewilligung im streitigen Zeitraum erfolgt ist; davon ist die richtige Klageart abhängig. Gegen bestandskräftige Bewilligungsbescheide wäre eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage zu erheben (§ 54 Abs. 1 und 4, § 56 SGG). Soweit im streitigen Zeitraum die Bewilligung allerdings für einzelne Zeiträume nur konkludent (§ 33 Abs. 2 SGB X) - etwa durch Überweisung von Geld - erfolgt sein sollte, wäre der Antrag vom 2. November 2005 u.U. als Widerspruch gegen noch nicht bestandskräftige Bewilligungen zu verstehen, weil möglicherweise mangels Rechtsbehelfsbelehrung die Widerspruchsfrist von einem Jahr (§ 84 Abs. 2 Satz 3 SGG i.V.m. § 66 SGG) noch nicht verstrichen wäre. In diesem Fall wäre die Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 55 Abs. 1 und 4 SGG) die richtige Klageart. In der Sache handelt es sich in jedem Fall um eine Klage auf höhere Leistungen, selbst wenn deshalb kein typischer Höhenstreit vorliegt, weil Analog-Leistungen regelmäßig in Form von Geldleistungen in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht werden und Leistungen nach §§ 3 ff AsylbLG grundsätzlich als Sachleistungen vorgesehen sind (vgl. dazu näher Senatsurteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R).

Soweit in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 2005 bestandskräftige Bescheide ergangen sind, misst sich die Begründetheit der Revision an § 44 Abs. 1 und 4 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit ua zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind; Sozialleistungen sind dann für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor dem Antrag auf Rücknahme zu erbringen. Ggf. ist im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der früheren Bescheide auch § 48 SGB X zu beachten. Die Zugunstenregelung des § 44 SGB X ist entgegen der Ansicht des Beklagten auch auf die Leistungen nach dem AsylbLG anwendbar. Dies ergibt sich aus der eindeutigen gesetzlichen Regelung des § 9 Abs. 3 AsylbLG; darin wird die entsprechende Anwendung der §§ 44 bis 50 SGB X ausdrücklich angeordnet. Nach dieser seit dem 1. Juni 1997 unverändert gebliebenen Wortfassung des § 9 Abs. 3 AsylbLG werden also nicht nur die Vorschriften der §§ 45 bis 50 SGB X für entsprechend anwendbar erklärt. Hierin liegt kein gesetzgeberisches Versehen. Vielmehr hat der Gesetzgeber in der Folgezeit trotz mehrerer Änderungen des AsylbLG diese Vorschrift in keiner Weise korrigiert.

Entgegen der Ansicht des Beklagten ist auch der Gesetzesbegründung zu § 9 AsylbLG nicht zu entnehmen, dass § 44 SGB X keine Anwendung finden solle. Die Neufassung des § 9 Abs. 3 AsylbLG erfolgte durch Art 1 Nr. 9 Buchst b des Ersten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG vom 26. Mai 1997 (BGBl I 1130), mit dem ausdrücklich die Wörter "§§ 44 bis 50 sowie" eingefügt wurden. Richtig ist zwar, dass die Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 13/2746 S 17 f) nicht die von § 44 SGB X geregelten Fälle der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes anspricht, sondern formuliert, der zuständigen Behörde solle die Möglichkeit gegeben werden, einen Rückforderungsanspruch geltend zu machen, wenn z.B. zunächst nicht bekannt gewesen sei, dass der Leistungsberechtigte über eigenes Einkommen verfügt habe und ihm daher zu Unrecht Leistungen erbracht worden seien. Hieraus kann aber wegen des eindeutigen Wortlauts der gesetzlichen Regelung nicht auf eine Unanwendbarkeit des § 44 SGB X geschlossen werden.

Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dieser gesetzlichen Regelung auch nicht die Rechtsprechung des BVerwG entgegen, wonach § 44 SGB X wegen des im Sozialhilferecht geltenden Grundsatzes "Keine Hilfe für die Vergangenheit" nicht anzuwenden sei (vgl. BVerwGE 68, 285, 288, und BVerwG, Urteil vom 13. November 2003 - 5 C 26.02 - FEVS 55, 320, 321). Bereits in seiner Entscheidung vom 16. Oktober 2007 (B 8/9b SO 8/06 R - RdNr 18 ff, zur Veröffentlichung vorgesehen) hat der Senat die Anwendbarkeit des § 44 SGB X im AsylbLG angedeutet. Entscheidend ist insoweit, dass sog Strukturprinzipien, die vom BVerwG entwickelt worden sind, keine "Supranormen" sind, die eindeutige gesetzliche Regelung konterkarieren dürfen (vgl. dazu Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, Vor § 1 RdNr 4 f, 8 f). Strukturprinzipien sind vielmehr aus den jeweiligen maßgeblichen Normen zu entwickeln, können mithin nicht dazu genutzt werden, explizite gesetzliche Regelungen in ihr Gegenteil zu kehren. Insoweit geht der Einwand des Beklagten fehl, bei den Leistungen nach dem AsylbLG handele es sich nicht um Sozialleistungen i.S. des § 44 SGB X. Gerade deshalb bedurfte es des ausdrücklichen Verweises auf die §§ 44 bis 50 SGB X. Soweit der Beklagte § 44 SGB X aus praktischen Gründen für unanwendbar hält, ist dies ebenfalls für die Auslegung der Norm ohne Bedeutung: Fehlende Praktikabilität rechtfertigt nicht die Abweichung von einer vom Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Regelung. [...]

Abgesehen davon fehlen Feststellungen sowohl zur Bedürftigkeit der Kläger (§ 2 AsylbLG iVm §§ 19, 82 ff. SGB XII bzw §§ 3 ff AsylbLG) und zur Höhe der Leistungsansprüche insgesamt. Insbesondere sind höhere Leistungen nur dann gerechtfertigt, wenn die den Klägern nach §§ 3 ff. AsylbLG gewährten Leistungen in der Summe niedriger sind als die Leistungen, die ihnen in entsprechender Anwendung des SGB XII zugestanden hätten. Bei dem erforderlichen Vergleich ist ohne Bedeutung, ob den Klägern nach den §§ 3 ff. AsylbLG Einmalleistungen gewährt wurden, die bei entsprechender Anwendung des SGB XII durch Pauschalleistungen abgegolten würden. Andererseits ist zu beachten, dass ggf. Bedarfe, die durch das SGB XII hätten gedeckt werden müssen, mittlerweile entfallen sein könnten. Leistungen nach §§ 3 ff. AsylbLG, die durch das SGB XII nicht gedeckt werden, sind demgegenüber nicht in die Vergleichsberechnung einzubeziehen. Dies gilt beispielsweise für die Krankenbehandlung nach § 4 Abs 1 AsylbLG. Danach ist zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände die erforderliche ärztliche Behandlung einschließlich sonstiger Leistungen vom zuständigen Leistungsträger des AsylbLG zu gewähren. Im Falle eines Anspruchs auf Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG iVm den Regelungen des SGB XII wäre den Klägern indes Krankenbehandlung nach § 264 Abs 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) durch die zuständige Krankenkasse zu gewähren gewesen, wobei offen bleiben kann, ob es sich insoweit um ein gesetzliches Auftragsverhältnis handelt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 1 KR 30/07 R). Jedenfalls wären Leistungen der Krankenbehandlung nach § 4 Abs. 1 AsylbLG in der Regel nicht Gegenstand von Leistungen nach dem SGB XII, sei es in Form der Hilfe zur Gesundheit (§§ 47 ff. SGB XII), sei es als Bestandteil des Regelsatzes (§ 28 SGB XII). [...]