LG Braunschweig

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Zitieren als:
LG Braunschweig, Beschluss vom 06.08.2009 - 3 T 1065/08, 3 T 464/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 90 ff.] - asyl.net: M16515
https://www.asyl.net/rsdb/M16515
Leitsatz:

Zur Haft Minderjähriger - Allein die Durchführung einer Handwurzeluntersuchung ist keine ausreichende Grundlage für die Altersbestimmung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Ingewahrsamnahme, Handwurzeluntersuchung, minderjährig, Nigeria, Haftanordnung, Verhältnismäßigkeit, Beschleunigungsgebot, Altersfeststellung,
Normen: FEVG § 11, AufenthG § 49 Abs. 2, AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 04.12.2008 war rechtswidrig. Die Voraussetzungen für die Haftanordnung lagen von vornherein nicht vor.

Das Ergebnis der Handwurzeluntersuchung vom 20.03.2008 stellt keine ausreichende Grundlage für die Feststellung dar, dass die Betroffene zum Zeitpunkt der Inhaftierung nicht minderjährig war. Sie selbst hatte angegeben, am ... 1990 geboren zu sein und war damit nach ihren Angaben bei Antragstellung am 28.11.2008 und auch noch bei Festnahme und Inhaftierung am 04.12.2008 erst 17 Jahre alt und folglich minderjährig. Da mangels anderweitiger Untersuchungen eine genaue und gesicherte Altersbestimmung unterblieben ist, geht auch die Kammer davon aus, dass die Betroffene zu jener Zeit (Haftantrag und Haftbeschluss) tatsächlich erst 17 Jahre alt war.

Bei der Betroffenen ist eine röntgenologische Untersuchung des Handwurzelknochens zur Altersbestimmung durchgeführt worden. Zwar finden sich keine Anhaltspunkte in der Ausländerakte, dass die Betroffene sich unfreiwillig der mittels Röntgenstrahlung durchgeführten Handwurzeluntersuchung unterzogen hat. Die röntgenologische Untersuchung des Handwurzelknochens ist im Gesetz weder erwähnt noch ausgeschlossen. Nach § 49 Abs. 2 AufenthG sind bei Zweifeln über das Lebensalter des Ausländers die zur Feststellung seines Lebensalters erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Maßnahmen im Sinne von § 49 Abs. 2 sind gemäß Abs. 4 die Vornahme von Messungen und ähnlichen Maßnahmen. Die Röntgenstrahlung am Menschen ist aber nach § 25 Abs. 1 S. 1 der Verordnung über den Schutz vor Röntgenstrahlen nicht für den Zweck der Altersbestimmung vorgesehen und kann damit nicht als "ähnliche Maßnahme" nach § 49 Abs. 4 anerkannt werden (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 49 Rn. 16).

Darüber hinaus hält die Kammer die alleinige Durchführung einer derartigen Handwurzeluntersuchung als Methode zur Altersbestimmung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht für ausreichend, um eine sichere Erkenntnis über das Lebensalter zu erzielen. In Anlehnung an die Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin sind sowohl eine körperliche Untersuchung mit Erfassung anthropometrischer Maße (Körperhöhe und -gewicht, Körperbautyp), der sexuellen Reifezeichen sowie möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen und eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und Gebissbefundes, wobei Röntgenaufnahmen nicht durchgeführt werden sollen, durchzuführen. Derartige Untersuchungen sind hier weder erfolgt, noch in Erwägung gezogen worden.

Gemessen an diesen Empfehlungen war insbesondere im vorliegenden Fall die alleinige Handwurzeluntersuchung unzureichend, zumal das Ergebnis: erwachsene ca. 19 Jahre alte weibliche Person, vage bleibt. Der Altersunterschied zwischen 17 Jahren und 3 Monaten und ca. 19 Jahren ist derart gering, dass es hier weiterer Untersuchungen bedurft hätte.

Die Antragstellerin hat in ihrem Haftantrag nicht dargelegt, warum mildere Mittel zur Vermeidung von Abschiebehaft nicht in Frage kamen mit der Folge, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unberücksichtigt geblieben ist. Gerade Minderjährige werden von der Vollziehung einer Haftanordnung erheblich betroffen und können hierdurch dauerhafte psychische Schäden davontragen. Nach dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allen Verwaltungshandelns, der die Ausländerbehörde in jedem Falle zwingt, das Abschiebungsverfahren mit größtmöglicher Beschleunigung zu betreiben und unverzüglich die notwendigen Vorbereitungen für die Abschiebung zu treffen, ist die Verwaltungsbehörde im Falle Minderjähriger darüber hinaus verpflichtet, alle Möglichkeiten zu prüfen, die auf mildere und weniger einschneidende Weise die beabsichtigte Abschiebung sichern können (OLG Köln, Beschluss vom 11.09.2002 - 16 WX 164/02; OLG Braunschweig, Beschluss vom 18.09.2003 - 6 W 26/03 -, zitiert nach juris). Dass derartige mildere Mittel von der Verwaltung geprüft wurden und warum sie im Einzelfall nicht in Betracht kommen, ist von der Verwaltung bereits in ihrem Haftantrag ausführlich darzustellen. Fehlt es hieran, so ist davon auszugehen, dass die Verwaltung die erforderliche Prüfung unterlassen hat und dass daher die Haftvoraussetzungen derzeit nicht vorliegen (vgl. OLG Braunschweig, a.a.O.).

Als milderes Mittel zur Vermeidung der Abschiebehaft kam vorliegend insbesondere die Unterbringung in geeigneten Jugendeinrichtungen oder eine Meldeauflage in Frage.

Die Antragstellerin hat die erforderliche Verhältnismäßigkeitsprüfung weder im Haftantrag, noch im Vorfeld des Haftantrages durchgeführt. Eine Abwägung, ob auch eine anderweitige Unterbringung als die Inhaftierung in einer Justizvollzugsanstalt in Betracht kommt, findet in der Ausländerakte keinen Niederschlag.

Die Inhaftierung war bereits deshalb rechtswidrig.

Überdies zieht die Kammer auch das Vorliegen des Haftgrundes gem. § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 AufenthG in Zweifel, zumal sich die Betroffene beiden Botschaftsvorführungen am 27.08.2008 und 13.11.2008 zur Verfügung gestellt hat.

Darüber hinaus ist Abschiebehaft nur verhältnismäßig, wenn die Ausländerbehörde die Abschiebung mit größtmöglicher Beschleunigung betreibt (vgl. BGHZ, 133, 235; OLG Celle, InfAuslR 2004, 118). Vor diesem Hintergrund ist es nicht zulässig, dass sich die Antragstellerin nicht sofort nach Eingang der Zusage des Bundespolizeipräsidiums Koblenz über die Ausstellung eines Passersatzpapieres für die Betroffene am 21.11.2008 um eine Flugbuchung gekümmert hat. Der Antragstellerin war bekannt, dass zuerst die Flugbuchung zur Rückführung vorzunehmen sei und die Flugdaten angegeben werden müssen, bevor das Bundespolizeipräsidium die Beschaffung des Reisedokumentes bei der Auslandsvertretung beantragen konnte. Die Begründung der Antragstellerin, dass eine vorherige Flugbuchung nicht sinnvoll gewesen sei und erhebliche Kosten verursachen würde, da nicht bekannt gewesen sei, ob sich die Betroffene weiterhin in der Unterkunft aufhalten würde, ist nicht geeignet, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als gewahrt anzusehen. Die Antragstellerin hat gegen den Beschleunigungsgrundsatz verstoßen.

2. Die Ingewahrsamnahme der Betroffenen am 4.12.2008 aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Braunschweig vom 01.12.2008 war rechtswidrig, weil für sie zu diesem Zeitpunkt keine Grundlage mehr bestand.

Die einstweilige Anordnung wurde am 01.12.2008 erlassen. Wann sie der Geschäftsstelle zum Zwecke der Bekanntmachung übergeben wurde, lässt sich der Akte nicht entnehmen, obwohl das Gericht gemäß § 3 FEVG i.V.m. § 69 f Abs. 4 FGG den Zeitpunkt der Übergabe auf der Entscheidung zu vermerken hat. Selbst wenn man davon ausginge, dass sie erst am 02.12.2008 übergeben wurde und damit erst an diesem Tage wirksam wurde (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 03.04.2008 - 2 W 54/08, zit. nach juris; LG Braunschweig, Beschluss vom 22.04.2009, 3 T 265/09), begann die darin festgesetzte Frist der Haft am 02.12.2008. Die Frist der Haft beginnt bereits mit Erlass des Beschlusses zu laufen (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, a.a.O.), Sie war auf zwei Tage beschränkt. Damit war die Frist der Haft am Tag der Festnahme, dem 04.12.2008, bereits abgelaufen. [...]