VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 09.09.2009 - 9 A 62/09 - asyl.net: M16521
https://www.asyl.net/rsdb/M16521
Leitsatz:

Verneinung einer Gesundheitsgefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei HIV-Infektion, die lediglich regelmäßige Kontrolluntersuchungen erfordert. Selbst bei Annahme einer alsbaldigen Gesundheitsgefahr nach Rückkehr läge lediglich eine allgemeine Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG wie für alle an HIV und/oder AIDS erkrankten Personen in Vietnam vor.

Schlagwörter: HIV/AIDS, Kontrolluntersuchung, medizinische Versorgung, Vietnam, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, erhebliche individuelle Gefahr, allgemeine Gefahr, Sperrwirkung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3, AufenthG § 60a Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Fall der Klägerin nicht vor. Aus den vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass die Klägerin HIV-positiv ist, die Erkrankung als Aids jedoch noch nicht besteht. Es ergibt sich nicht, dass die Klägerin in laufender ärztlicher Behandlung steht und medikamentöser Behandlung bedarf. Die Klägerin bedarf jedoch in Abständen von mehreren Monaten Dauer einer Kontrolluntersuchung. Ob eine derartige Untersuchung in Vietnam möglich und für die Klägerin aus finanziellen Gründen durchführbar ist, erscheint nach den dem Gericht vorliegenden und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln zweifelhaft. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass ein Unterbleiben der Kontrolluntersuchung alsbald zu einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung der Klägerin führen würde.

Selbst wenn man hiervon abweichend davon ausgehen müsste, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Vietnam eine derartige Gesundheitsverschlechterung drohte, hinderte dieses eine Abschiebung nicht. Eine derartige Gefahr würde eine Gefahr darstellen, der die Klägerin nicht alleine ausgesetzt wäre, sondern sämtliche an HIV und / oder Aids erkrankten Personen in Vietnam. Die offizielle Zahl der HIV / Aids - Erkrankten in Vietnam liegt bei 136.000 Menschen, die Weltgesundheitsorganisation geht von mindestens 300.000 Personen aus (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.6.2009). Es würde sich bei der der Klägerin drohenden Gefahr mithin um eine solche handeln, die von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG erfasst wird, und die sie mit einer Vielzahl anderer Personen teilen würde. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 2 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längsten 6 Monate ausgesetzt wird. Das Bundesverwaltungsgericht hat zu der vergleichbaren Regelung der §§ 53 Abs. 6, 54 AuslG entschieden, dass mit dieser Regelung nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden soll, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der Bevölkerung oder einer im Abschiebungszielstaat lebenden Bevölkerungsgruppe gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums befunden wird. Allgemeine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG können daher auch dann nicht Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen, wenn sie den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise treffen. Trotz bestehender erheblicher Gefahr ist danach die Anwendbarkeit des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Verfahren eines einzelnen Ausländers "gesperrt", wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht. Diese Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben die Verwaltungsgerichte zu respektieren. Sie dürfen daher im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe angehören, für die ein Abschiebestopp nach § 54 AuslG nicht besteht, nur dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG zusprechen, wenn keine anderen Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG gegeben sind, eine Abschiebung aber Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 , Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dem einzelnen Ausländer unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach §§ 53 Abs. 6 S. 2, 54 AuslG Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren (BVerwG, Urteil vom 08.12.1998 - 9 C 4.98 - BVerwGE 108,77 m.w.N.). An dieser Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes festgehalten (vgl. Urteil vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - BVerwGE 127, 33; Beschluss vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 - juris). Für eine derartige extreme Gefahrenlage für die Klägerin bestehen jedoch angesichts ihres gegenwärtigen Gesundheitszustandes keinerlei Anhaltspunkte. [...]