VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 09.12.2009 - 1 K 1032/09.F - asyl.net: M16532
https://www.asyl.net/rsdb/M16532
Leitsatz:

Einem Ausländer, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, ist es grundsätzlich nicht zumutbar, bei der Auslandsvertretung des Staates, von dem die Verfolgung ausgeht oder dem sie zuzurechnen ist, die Ausstellung eines Ausweispapiers zu beantragen. Dies gilt unabhängig davon, ob er in der Lage ist, die gesetzliche Vermutung, sich durch die Annahme eines solchen Papiers erneut unter den Schutz dieses Staates stellen zu wollen, widerlegen kann oder nicht.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Reiseausweis für Ausländer, Flüchtling, Auslandsvertretung, Vorsprache, Zumutbarkeit
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, AsylVfG § 72 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Nach § 5 Abs. 1 AufenthV kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Die Kläger sind unstreitig weder im Besitz eines türkischen Nationalpasses noch in dem eines Passersatzes. Unstreitig liegen auch die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 und 4 AufenthV nicht vor, die der Ausstellung eines Reiseausweises entgegenstehen (können). Die Kläger können einen türkischen Nationalpass auch nicht auf zumutbare Weise erlangen.

Wie durch die dem Gericht vorliegenden Äußerungen des türkischen Generalkonsulats bestätigt und seitens des Beklagten inzwischen auch nicht mehr bestritten wird, können die Kläger nur dann einen türkischen Nationalpass erhalten, wenn sich nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter der Kläger persönlich in das türkische Generalkonsulat begeben und dort an der Antragstellung mitwirken. Hinsichtlich der Mutter ist das zumindest insoweit der Fall, als sie, bevor sie an der Ausstellung von Nationalpässen für die Kläger mitwirken kann, zunächst für sich die Ausstellung eines Nüfus beantragen und dazu persönlich erscheinen muss. Dies ist ihr jedoch nicht zumutbar, denn sie würde damit eine Handlung ausführen, die den Tatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erfüllt und zum Erlöschen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.

Nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erlischt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn sich der Ausländer freiwillig erneut dem Schutz des Staates unterstellt, dessen Staatsbürgerschaft er besitzt. Als Indiz dafür, dass der Ausländer genau dies tut, gilt nach dem Gesetz die Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder eine sonstige Handlung, der eine ähnliche Bedeutung zukommt. Eine sonstige Handlung in diesem Sinne ist auch die Ausstellung eines Personalausweises (Nüfus). Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die dadurch begründete Vermutung, der Ausländer habe sich erneut unter den Schutz seines Heimatstaates gestellt, widerleglich ist (BVerwG, Urt. v. 02.12.1991 – 9 C 126/90 –, BVerwGE 89, 232). Indessen kann es keinem Flüchtling zugemutet werden, zunächst die Vermutung zu begründen, er habe sich unter den Schutz des Heimatstaates gestellt und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei erloschen, um dann Anstrengungen unternehmen zu müssen, diese Vermutung zu widerlegen. [...]

Es ist darüber hinaus grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der Frage, ob die Kontaktaufnahme eines anerkannten Flüchtlings zu den Behörden seines Herkunftsstaates zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führt oder nicht, und der Frage, ob es ihm zumutbar ist, dies zu tun. Von der Beantwortung der erstgenannten Frage lässt sich logisch nicht auf die Beantwortung der zweiten schließen. Grundsätzlich ist es einem Ausländer, der in seinem Heimatland verfolgt wird, nicht zumutbar, die Dienste der Behörden dieses Landes durch persönliche Vorsprache in Anspruch zu nehmen, und zwar auch dann, wenn darin kein Indiz dafür gesehen werden kann, dass sich der Ausländer erneut unter den Schutz dieses Staates begibt. Denn es ist einem anerkannten Flüchtling nicht zumutbar, durch Verfahrenshandlungen gegenüber dem Verfolgerstaat sich genau der Ordnung zu unterwerfen oder diese Ordnung mit seinem Handeln anzuerkennen, die ihn in menschenrechtswidriger Weise aus der staatlichen Friedensordnung ausgeschlossen hat. Einem Ausländer, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, ist es deshalb grundsätzlich nicht zumutbar, bei der Auslandsvertretung des Staates, von dem die Verfolgung ausgeht oder dem sie zuzurechnen ist, die Ausstellung eines Ausweispapiers zu beantragen. Dies gilt unabhängig davon, ob er in der Lage ist, die gesetzliche Vermutung, sich durch die Annahme eines solchen Papiers erneut unter den Schutz dieses Staates stellen zu wollen, widerlegen kann oder nicht.

Diese Auffassung wird durch die Genfer Flüchtlingskonvention bestätigt, derzufolge ein Flüchtling nicht nur einen Anspruch auf Ausstellung eines Personalausweises (Art. 27 GFK) und eines Reiseausweises (Art. 28 GFK), sondern auch einen Anspruch darauf hat, dass die Behörden des Zufluchtstaates überhaupt alle Urkunden und Bescheinigungen ausstellen, die Ausländern normalerweise von den Behörden ihres Heimatlandes ausgestellt werden (Art. 25 Abs. 2 GFK). Vom Wortlaut dieser Regelung ist der Fall der Mitwirkung an der Ausstellung von Personalpapieren für die Kinder zwar nicht erfasst. Die genannten Regelungen bringen jedoch über ihren Wortlaut hinaus den allgemeinen Rechtsgedanken zum Ausdruck, dass einem Flüchtling die Kontaktaufnahme mit den Behörden des Verfolgerstaates nicht zugemutet werden soll.

Diese Auffassung wird auch in der Rechtsprechung bestätigt. Danach kann einem Flüchtling (der wegen einer Bleiberechtsregelung nicht förmlich anerkannt worden ist) die Beantragung eines Reisepasses bei der Auslandsvertretung des Heimatstaates nur dann zugemutet werden, wenn sich die Lage in diesem Staat dahingehend geändert hat, dass von einer Verfolgung nicht mehr ausgegangen werden kann (OVG Lüneburg, B. v. 17.02.2005 – 11 PA 345/04 –, juris). Soweit das VG Gelsenkirchen (B. v. 17.07.2009 – 9 K 2813/08 –, juris) in einem jüngeren Beschluss über einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe die gegenläufige Auffassung im Wesentlichen damit glaubt begründen zu können, dass mit der Ausstellung eines Reisepasses regelmäßig ein Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates verbunden sei, wird offenbar verkannt, dass die Personalhoheit des Heimatstaates über seine Staatsangehörigen gerade dann völkerrechtlich nicht anerkannt wird, wenn es sich um Flüchtlinge handelt. Die Unzumutbarkeit der Beantragung eines Ausweispapiers oder sonstigen Dokuments für jene, die sich aus Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Heimatstaates aufhalten müssen, wird auch nicht dadurch beseitigt oder in Frage gestellt, dass andere Flüchtlinge in vergleichbarer Lage diese Unzumutbarkeit auf sich nehmen.

Selbst wenn das Hindernis des fehlenden Nüfus der Mutter überwunden werden könnte und wenn es zutreffen sollte, dass sie in diesem Falle an der Ausstellung von Reisepässen für die Kinder nicht im Wege der persönlichen Vorsprache im türkischen Generalkonsulat mitwirken müsste, sondern die Vorlage einer von ihr ausgestellten notariellen Vollmacht für den Vater der Kläger ausreichen würde, wäre ihr die so beschriebene Mitwirkung nicht zumutbar. Insoweit ist von Bedeutung, dass ausweislich des in den Behördenakten befindlichen Merkblattes des türkischen Generalkonsulats die Vorlage einer notariell beglaubigten Vollmacht eines Elternteils nur dann ausreicht, wenn der betreffende Elternteil "wegen ihres Asylstatus hier nicht vorstellig werden kann". Diese Bedingung führt dazu, dass ein türkischer Staatsbürger, der dem türkischen Generalkonsulat eine derartige Vollmacht vorlegt oder vorlegen lässt, damit zugleich zu erkennen gibt, dass er "Asylstatus" genießt. Es ist einem Flüchtling aber aus Gründen, die keiner weiteren Darlegung bedürfen, nicht zumutbar, den Behörden des Verfolgerstaates seinen Aufenthalt und den Umstand mitzuteilen, dass er sich als anerkannter Flüchtling außerdem des Heimatstaates aufhält.

Ist somit der Mutter die Mitwirkung an der Ausstellung von türkischen Nationalpässen für die Kläger nicht zumutbar und ist sie auch nicht bereit, auf unzumutbare Weise mitzuwirken, so ist es den Klägern objektiv unmöglich, türkische Reisepässe zu erhalten. Damit sind die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen der Beklagte den Reiseausweis erteilen kann, erfüllt. Das gesetzlich damit eröffnete Ermessen ist auf Null reduziert, da ein sachgemäßer Grund, dessentwegen die Ausstellung der Reiseausweise gleichwohl unterbleiben sollte, weder vorgetragen noch ersichtlich ist. [...]