VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 18.11.2009 - A 12 K 1744/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 69 f.] - asyl.net: M16543
https://www.asyl.net/rsdb/M16543
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer Roma aus dem Kosovo, da ihr wegen ihrer früheren exponierten, dem früheren Milosevic-Regime zugerechneten beruflichen Tätigkeit erneute Verfolgung droht. Einzelfall mit allgemeinen Ausführungen zur Sicherheitslage im Kosovo.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Kosovo, Roma, nichtstaatliche Verfolgung, Qualifikationsrichtlinie
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 b, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...] Allerdings kann sie sich auf eine begründete Furcht vor Bedrohungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG berufen, ohne dass der Staat oder sonstige - auch internationale - Organisationen in der Lage sein würden, ihr adäquaten Schutz zu bieten. Die Verfolgungsgefahr resultiert aus der früheren exponierten beruflichen Tätigkeit der Klägerin im Zusammenhang mit ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Roma. Sie hat glaubhaft vorgetragen, dass sie in ihrer Eigenschaft als Journalistin bei [...] in dieser Funktion die offizielle politische Position der damaligen Staatsregierung unter Milosevic vertreten musste. [...] Sie sei deshalb von der Außenwelt, wie andere Mitarbeiter [...] auch, als im serbischen Lager stehend wahrgenommen und als Kollaborateurin verunglimpft worden. Zwar gehört die Klägerin wegen ihres moslemischen Glaubens nicht zu den sogenannten "ethnischen" Roma, die traditionell den Serben nahestehen. Sie hat auch selbst nicht behauptet, pro-serbisch (gewesen) zu sein. Gleichwohl ist es glaubhaft, dass sie von der albanischen Bevölkerung so wahrgenommen wurde. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass während des fraglichen Zeitraums Angehörige der Volksgruppe der Roma generell von den Albanern als den Serben, denen schwerste Menschenrechtsverletzungen an der mehrheitlich kosovo-albanischen Bevölkerung angelastet werden, nahestehend betrachtet und dabei Kollaborations-Vorwürfe auf alle Roma-Gruppen übertragen worden waren (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Bundesrepublik Jugoslawien - Kosovo - vom 21. November 2000). Das Gericht nimmt der Klägerin auch ab, dass sie vor ihrer Ausreise aus dem Kosovo von Albanern tätlich angegriffen worden war. Im Lagebericht vom November 2000 ist ausgeführt, dass es noch im Spätsommer/Herbst 1999 zu massiven Übergriffen von Zivilisten gegenüber Mitgliedern der Minderheitsethnien gekommen sei; betroffen gewesen seien insbesondere Serben und Roma (ebenda). Diese seien zum Teil systematischen Pressionen, Einschüchterungen und gewaltsamen, immer wieder auch tödlich endenden Übergriffen sowie massiven Sachbeschädigungen (Niederbrennen von Häusern) durch Kosovo-Albaner ausgesetzt gewesen, um sie, die Minderheiten, dazu zu bringen, das Land zu verlassen. In zahlreichen Fällen seien nach den Erkenntnissen der Hochkommissarin für Menschenrechte Frauen Opfer von Vergewaltigungen oder Misshandlungen geworden. Mit diesen Erkenntnissen decken sich die Einlassungen der Klägerin zu ihrer eigenen Situation vor ihrer Ausreise aus dem Kosovo 1998. Es ist daher davon auszugehen, dass sie das Land vorverfolgt verlassen hatte. Unschädlich für diese Feststellung ist der Umstand, dass sie nach ihrer Ankunft im Bundesgebiet keinen Asylantrag stellte, weil sie davon ausgegangen war, auf anderer rechtlicher Grundlage ein Bleiberecht zu erlangen.

Ausgehend von Art. 4 Abs. 4 QRL (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl. EU Nr. L 304 Seite 12) i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ist diese bei der Klägerin feststellbare Verfolgungssituation vor ihrer Ausreise aus dem Kosovo bereits ernsthafter Hinweis darauf, dass ihre Furcht vor erneuter Verfolgung bzw. davor, dass sie tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden im Falle ihrer Rückkehr in den Kosovo zu erleiden, begründet ist. Stichhaltige Gründe, die gegen eine derartige Bedrohung oder Verfolgung sprächen, sind nicht ersichtlich. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Republik Kosovo vom 19.10.2009 (Stand: September 2009) ist es nicht auszuschließen, dass es noch Personengruppen gibt, die weiterhin einer Gefährdung ausgesetzt sind, wozu insbesondere Personen gehören, die der Zusammenarbeit mit den serbischen Behörden in der Zeit von 1990 bis 1999 verdächtigt werden. Zu dieser Personengruppe aber gehört, wie ausgeführt, die Klägerin. Es kann mithin nicht davon ausgegangen werden, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in die Republik Kosovo hinreichend vor erneuter Verfolgung sicher sein würde. Auch ist davon auszugehen, dass diese Bedrohung bzw. Gefahr der Klägerin landesweit droht. Dies ergibt sich aus ihrer exponierten, dem früheren Milosevic-Regime zugerechneten beruflichen Tätigkeit vor ihrer Ausreise. Dass sich insoweit nach wie vor kein gesicherter durchschlagender Bewusstseinswandel vollzogen hat, wurde dargelegt. Auch nach derzeitiger Einschätzung internationaler Organisationen gilt, dass die Sicherheitslage im Kosovo zwar relativ ruhig aber fragil ist. Insbesondere im Bereich Mitrovica und Nord-Kosovo können sich danach Konflikte jederzeit wieder entzünden. Nach wie vor gibt es weiterhin alltägliche Schikanierungen, Beschimpfungen und Bedrohungen der Roma-Bevölkerung (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo: Zur Rückführung von Roma, Bern, 31.10.2009, Seite 15, mit weiteren Hinweisen). Im August 2009 kam es zu Übergriffen von Albanern auf Roma an mehreren Orten des Kosovo (ebenda Seite 16). Auch die Kosovo-Regierung selbst geht davon aus, dass die Roma-Gemeinschaften im Kosovo diskriminiert sind. Gilt dies schon allgemein, so auch im Falle der Klägerin, die, wie bereits ausgeführt, einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte und davon auszugehen ist, dass nach wie vor angesichts des schwelenden Hasses der albanischen Bevölkerung auf Serben und Roma die Klägerin nicht hinreichend sicher vor der Gefahr von Übergriffen Dritter sein wird. Aufgrund dieses früheren Bekanntheitsgrades ist auch anzunehmen, dass sie trotz 10jähriger Abwesenheit erkannt werden würde. Der Hinweis im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, wonach sich dergestalt bedrohte Angehörige von Minderheiten durch Wohnsitznahme in anderen Teilen des Kosovo entziehen könnten, gilt deshalb für die Klägerin nicht. Im Übrigen dürfte diese Möglichkeit in der Praxis kaum durchführbar sein, nachdem nur am Herkunftsort Anträge auf Sozialhilfe gestellt werden können (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 10) und angesichts der generell extrem schwierigen Erwerbslage ohne Sozialhilfe die Existenz (vorübergehend) kaum anderweitig zu sichern sein dürfte.

Es kann schließlich auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin staatlichen Schutz oder Schutz durch (internationale) Organisationen würde erlangen können. Abgesehen davon, dass nach den vorliegenden Erkenntnissen Übergriffe Dritter aus Angst vor Racheakten im Regelfall nicht gemeldet werden, ist das kosovarische Polizei- und Justizsystem schwach und kann eine unabhängige Strafverfolgung und Rechtsprechung kaum gewährleisten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 6). Sonstige funktionierende Schutzmechanismen gibt es kaum. So existieren zwar neben der Polizei auch die beiden EU-Missionen EULEX und ICO. Innerhalb der Polizei sind allerdings lediglich 15,5 % Angehörige der Minderheiten und alle übrigen Angehörigen Kosovo-Albaner, so dass bei ethnisch bedingten Übergriffen nicht von einem wirksamen polizeilichen Schutz ausgegangen werden kann. Die ICO (International Civilian Office) hat ihre Aufgabe (lediglich) in der Überwachung der politischen und tatsächlichen Umsetzung der Vorgaben des Ahtisaari-Plans (zu Allem: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19.10.2009). Hinsichtlich EULEX gehen die Auskünfte zwar auseinander, was deren exekutive Funktion anbelangt. So führt das Auswärtige Amt aus, EULEX habe neben Beratungsfunktionen beim Aufbau der Polizei, der Justiz, dem Zoll und der Verwaltung auch exekutive Funktion, wie z.B. bei der Verfolgung organisierter Kriminalität, Korruption, interethnischer Kriminalität, Kriegsverbrechen sowie bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Demgegenüber gibt die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O., Seite 4) an, diese Organisation habe im Zusammenhang mit dem Schutz ethnischer Minderheiten keine exekutive Verantwortung. Selbst wenn man der Information des Auswärtigen Amtes folgt, erscheint es ausgeschlossen, dass bei der geringen Anzahl der EULEX-Beschäftigten (1.650 internationale und 950 lokale Beschäftigte, vgl. Lagebericht, a.a.O.) und der Vielfalt ihrer Aufgaben eine effektive Sicherheitskontrolle gewährleistet werden kann. Ansonsten gibt es ein im Jahre 2004 erlassenes Anti-Diskriminierungsgesetz; dieses ist aber kaum bekannt in der Bevölkerung, zudem bleibt unklar, welche Institution für Umsetzung und Rechtserzwingung zuständig sein soll (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., Seite 7). [...]