VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 13.01.2010 - 5 K 1346/08.KS.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 78] - asyl.net: M16556
https://www.asyl.net/rsdb/M16556
Leitsatz:

Sippenhaftähnliche Repressalien haben infolge der Reformen und Veränderungen in der Türkei zwar deutlich abgenommen. Gleichwohl ist eine entsprechende Gefährdung nicht generell zu verneinen. Der Widerrufsbescheid ist insgesamt aufzuheben, da davon auszugehen ist, dass die Klägerin wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Großfamilie, die im Verdacht der Unterstützung der PKK stand, als besonders gefährdete Person bei einer Rückkehr in der Türkei nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung wäre.

Schlagwörter: Widerruf, Türkei, Sippenhaft, am 3/2010
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 2 - 7, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Ausgehend hiervon haben sich die zum Zeitpunkt der Zuerkennung der Abschiebungshindernisse zugunsten der Klägerin maßgeblichen Verhältnisse nach Auffassung des Gerichts nachträglich zwar deutlich gebessert, aber nicht so verändert, dass die nach den Feststellungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in dem Bescheid vom 14.04.1994 vorverfolgt ausgereiste Klägerin im Falle einer Rückkehr in die Türkei vor Verfolgungsmaßnahmen nicht hinreichend sicher ist. [...]

Aufgrund dieser Feststellungen ist davon auszugehen, dass die Klägerin, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Großfamilie, die generell im Verdacht der Unterstützung der PKK stand, vorverfolgte Asylbewerberin als besonders gefährdete Person anzusehen ist und bei einer Rückkehr in die Türkei dort nicht hinreichend sicher vor erneuter politischer Verfolgung wäre. Es ist nämlich nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, dass die Klägerin nach ihrem in der Türkei inhaftierten Vater und den Exilaktivitäten weiterer Verwandter, die unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft anerkannt worden sind, gefragt wird und zur näheren Aufklärung des Sachverhalts an die politische Abteilung der Polizei in Istanbul überstellt wird. Dass bei dieser Befragung die oben genannten "subtileren Methoden" der Folter wie etwa Schlafentzug, Hinderung am Toilettengang, Verweigerung von Essen und Trinken sowie Demütigungen bis hin zu Todesdrohungen gegenüber der Klägerin angewandt werden könnten, kann nach obigen Feststellungen jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

Im Übrigen ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass die Klägerin wegen des Bekanntheitsgrades, den ihr Vater in der Türkei erworben hat, vor derartigen Verfolgungsmaßnahmen türkischer Sicherheitsbehörden hinreichend sicher ist. Zwar haben infolge der Reformen und Veränderungen in der Türkei sippenhaftähnliche Repressalien deutlich abgenommen. Gleichwohl wird eine entsprechende Gefährdung weder generell noch grundsätzlich verneint. Vielmehr ist aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Entwicklung im Rahmen einer erforderlichen Gesamtwürdigung des Vorbringens des betreffenden Asylsuchenden zu prüfen, ob ihm ausnahmsweise politische Verfolgung unter dem Aspekt der Sippenhaft droht (Nds. OVG, Beschlüsse v. 27.02.2007 - 11 LA 98/07 - und v. 05.01.2007 - 11 LA 149/06 -; Urteil v. 18.07.2006 - 11 LB 264/05 -; .Hess. VGH, U.v. 17.01.2007 - 6 UE 1237/05.A - und v. 08.02.2006 - 6 UE 411/04.A -; OVG NW, Beschluss v. 28.03.2006 - 8 A 4905/05 -). Die Klägerin ist danach als nahe Verwandte eines exponierten Oppositionellen sowie als Mitglied einer im Verdacht der Unterstützung der PKK aktiven Großfamilie für die türkischen Sicherheitsbehörden als Auskunftsperson von Interesse. Den Schutz der Öffentlichkeit wird die Klägerin dabei ebenso wenig in Anspruch nehmen können wie Angehörige anderer exponierter Oppositioneller. [...]