VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 03.11.2009 - 7 K 447/09.A - asyl.net: M16573
https://www.asyl.net/rsdb/M16573
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, da der Kläger durch rechtskräftiges Urteil als Flüchtling anerkannt wurde und ihm als PKK-Sympathisant im Falle der Rückkehr in die Türkei mangels gegenteiliger Erkenntnisse weiterhin politische Verfolgung droht.

Schlagwörter: Widerrufsverfahren, Türkei, Kurden, PKK, Sympathisant, Klagefrist, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 74 Abs. 1, AsylVfG § 73 Abs. 1 Satz 1,
Auszüge:

[...]

Das erkennende Gericht hat bereits in seinem Urteil vom 24. Juni 2009 - 7 K 973/08 A - (nicht rechtskräftig) darauf abgestellt, dass Personen, die - wie der Kläger ausweislich der Entscheidungsgründe des genannten Urteils des Verwaltungsgerichts Cottbus - den türkischen Behörden als Sympathisanten bzw. Unterstützer linksorientierter oder separatistischer Organisationen bekannt geworden bzw. in einen entsprechenden ernsthaften Verdacht geraten sind - bei denen folglich ein individualisierter, d.h. konkret auf die Person des Betroffenen bezogener Verdacht anzunehmen war -, im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen in der Türkei auch heute mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen müssen, die darauf abzielen, sie wegen ihrer politischen Überzeugung zu treffen und die dem türkischen Staat auch zurechenbar sind. Hieran hält das Gericht mangels gegenteiliger Erkenntnisse über die Lage in der Türkei und nach dem erfolgten Hinweis vom 29. Oktober 2009 fest. [...]

Im vorliegenden Fall wurde dem Kläger zu 1. die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da er von den türkischen Sicherheitskräften wegen seines Auftretens im Zusammenhang mit den spektakulären Aktionen anlässlich der Verhaftung Öcalans als Unterstützer kurdischer Separatisten angesehen wurde und er deshalb politische Verfolgung zu befürchten hatte. Zwar hat der Anerkennungsbescheid vom 11. Dezember 2002 diese Begründung nicht selbst formuliert, jedoch mit dem alleinigen Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 12. September 2002 sich dessen tatsächliche Grundlagen zur Annahme einer beachtlichen Verfolgungsfurcht zu eigen gemacht. Mit diesem Erklärungsinhalt ist der Anerkennungsbescheid bestandskräftig und wirksam geworden.

Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid in Bezug auf den Kläger lediglich ausgeführt, die Rechtslage und die Menschenrechtssituation hätten sich deutlich zum Positiven verändert. Konkrete Bezüge auf den Fall des Klägers in seiner speziellen Situation als namhaft gemachter PKK-Anhänger enthält die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids nicht. Damit hat es das Bundesamt versäumt, die Anerkennungsgründe konkret und nachvollziehbar mit den aktuellen Verhältnissen in der Türkei zu vergleichen. Das Bundesamt hat nicht etwa konkret dargelegt, dass - wenngleich vor mehr als 10 Jahren - als Anhänger der PKK anlässlich spektakulärer Vorfälle namhaft gemachte Personen heute in der Türkei mit der bei Fällen früherer Vorverfolgung erforderlichen Wahrscheinlichkeit auch bei der notwendigerweise erfolgenden Einreisekontrolle keine asylrelevanten Nachstellungen mehr zu befürchten haben. Es fehlt deshalb schon der für den Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erforderliche Nachweis, dass die Voraussetzungen für die Flüchtlingszuerkennung nicht mehr vorliegen.

Unabhängig davon hat sich die maßgeblich in den Blick zu nehmende Situation von individuell "vorbelasteten" türkischen Flüchtlinge kurdischer Volkszugehörigkeit bei einer Rückkehr in die Türkei nicht im Sinne des angefochtenen Bescheides erheblich bzw. nachhaltig geändert. Entscheidend sind nicht die vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid angeführten Veränderungen der allgemeinen politischen Verhältnisse sowie der Rechtslage in der Türkei, Maßgebend ist vielmehr, dass in Ansehung der ins Verfahren eingeführten und den Beteiligten ausweislich des angefochtenen Bescheides bzw. der Schriftsätze des seinerzeitigen Klägerbevollmächtigten vom 4. November 2008 wie der jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 26. Oktober 2009 im Übrigen darüber hinaus hinlänglich bekannten Auskünfte über die Lage in der Türkei nicht festgestellt werden kann, dass die Gefahr einer erneuten individuellen Verfolgung des Klägers entfallen ist.

Eine durch Umsturz hervorgerufene Verbesserung der politischen Verhältnisse im Sinne eines Systemwechsels - eine solche Veränderung hatte dem Gesetzgeber für die Widerrufsregelung in erster Linie vor Augen gestanden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006, a.a.O.) - ist in der Türkei unzweifelhaft nicht eingetreten. Allerdings haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers zu 1. im Jahre 2002 durchaus verändert, wie der angefochtene Bescheid zutreffend darstellt. Im Hinblick auf diese Rechtsänderungen nimmt das Bundesamt an, türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, die wegen tatsächlicher, unterstellter oder vermeintlicher Unterstützung der PKK Verfolgungsfurcht hinsichtlich der Türkei geltend gemacht hätten, müssten heute bei einer Rückkehr in die Türkei keine Repressalien mehr befürchten. Hinsichtlich des Klägers zu 1. sei zudem davon auszugehen, dass er nicht prominent in Erscheinung getreten sowie in der Türkei schwierig zu identifizieren sei. Diese Annahme trifft jedoch nicht zu und geht von einem rechtswidrigen Ansatz aus. Denn einerseits steht nach Maßgabe des Urteils vom 12. September 2002 - ob zu Recht oder zu Unrecht, ist hier ohne Belang - fest, dass der Kläger zu 1. bei den türkischen Sicherheitsstellen als aktiver PKK-Anhänger anlässlich der damaligen spektakulären Vorgänge im Nachgang zur Verhaftung Öcalans bekannt geworden war; er ist demnach bereits "identifiziert". Andererseits kann die Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung im Falle einer Rückkehr in die Türkei trotz des eingeleiteten Reformprozesses für den Kläger nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, weil der Mentalitätswandet in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo nicht hat Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. Januar 2007 S. 9 und vom 25. Oktober 2007 S. 28). In einer Rede am 30. Oktober 2008 hat der stellvertretenden Ministerpräsident Cicek eingeräumt, es gebe Mentalitätsprobleme bei der Implementierung der Reformgesetze (vgl. BAMF, Erkenntnisse November 2008 S. 4). Dies ist darauf zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung und Justiz aufgrund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der isiamisch-konservativen AKP-Regierung hegen und Reformschritte als von außen oktroyiert und potenziell schädlich wahrnehmen (vgl. BAMF, Informationen Oktober 2008 S. 3). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen, zumal die Reformgesetze häufig durch später erlassene Ausführungsbestimmungen konterkariert wurden (vgl. Oehring, Gutachten vom 6. April 2008 an VG Stuttgart S. 3). In Bezug auf die Meinungsfreiheit haben die acht Gesetzespakete keine Änderungen bewirkt (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 28. Mai 2007 an VG Magdeburg). Zwar hat das türkische Parlament am 30. April 2008 den Strafrechtsparagraphen 301, der die Beleidigung des "Türkentums" unter Strafe stellte, geändert. Das türkische Strafgesetzbuch enthält jedoch mindestens weitere 40 Vorschriften, die die Meinungsfreiheit einschränken (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008 S. 12). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt. die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. [...]

In der Rechtsprechung wird weiter nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. die zahlreichen Nachweise bei VG Stuttgart, Urteil vom 14. September 2009 - A 11 K 3775/08 -, juris Rn. 30).

Die Lage in der Türkei für Sympathisanten bzw. Unterstützer der PKK hat sich entgegen der Ansicht des Bundesamtes in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern eher verschärft: Seit der Aufkündigung der durch die PKK ausgerufenen Waffenruhe im Juni 2004 kam es vermehrt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der PKK-Guerilla. Im Jahr 2008 haben diese Auseinandersetzungen deutlich an Härte zugenommen mit der Folge, dass sich die Sicherheitslage wesentlich verschlechtert hat (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 7. Januar 2009 an VG Oldenburg S. 23 f.). Außerdem verübte die PKK regelmäßig Bombenanschläge, die zu einer großen Anzahl von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung führten (vgl Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008 S. 16). Nach den friedlich verlaufenen Newroz-Feierlichkeiten kam es zwischen dem 28. und 31. März 2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten der Türkei zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten sowie türkischen Sicherheitskräften (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007 S. 16). Seit dem Überfall der PKK am 21. Oktober 2007 auf einen Außenposten der türkischen Armee, bei dem 12 Soldaten getötet und 8 Soldaten verschleppt wurden, ist in der Türkei eine besonders starke nationalistische Stimmung zu spüren, die von den Medien gezielt angeheizt wird; diese Entwicklung wird gefördert durch den Umstand, dass der Einfluss der Ultranationalisten, die meinungsbildend wirken, seit 2005 zugenommen hat (vgl. NZZ vom 24. Oktober 2007 und vom 30. Oktober 2007; StZ vom 11. Juni 2008 und vom 6. Oktober 2008; Oehring, Gutachten vom 6. April 2008 an VG Stuttgart S. 22). Es kam zu zahlreichen Übergriffen gegen Kurden und mehrere Büros der pro-kurdischen Partei DTP wurden angezündet (vgl. NZZ vom 30. Oktober 2007). Seit Dezember 2007 unternimmt das Militär grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008 S. 16). Der türkische Generalstab hat zudem mehrere Gebiete im Südosten der Türkei zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten erklärt, deren Betreten für Ortsfremde verboten ist und einer strengen Kontrolle unterliegt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008 S. 16). Im September 2008 wurde die Zahl dieser Sperrgebiete weiter erhöht (vgl. SFH-Oberdiek, Update: Aktuelle Entwicklungen 9. Oktober 2008 S. 4). Die Feiern zum traditionellen Newroz-Fest wurden im Jahr 2008 im Südosten der Türkei verboten (vgl. Amnesty Report 2009, S. 4). Im Zuge der zunehmenden Spannungen kam es auch im Jahr 2008 zu zahlreichen Übergriffen auf türkische Staatsangehörige kurdischer Herkunft (vgl. Amnesty Report 2009, S. 3). In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29. Juni 2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Die Verschärfungen sehen eine Wiedereinführung des abgeschafften Art. 8 ATG und eine weite Terrordefinition vor (vgl Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008 S. 12). Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme vom 29. Oktober 2006 an VG Ansbach). Damit werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt durch die Reformgesetze gestärkt wurden. wieder eingeschränkt. Diese Gesetzesverschärfung zeigt, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat, sondern deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008 S. 24; SFH-Oberdiek, Update: Aktuelle Entwicklungen 9. Oktober 2008 S. 1). Aufgrund der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurde die Debatte über eine weitere Demokratisierung in der Türkei nunmehr von der Sicherheitsfrage verdrängt (vgl. NZZ vom 24. Oktober 2007). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird. [...]

Diese Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt in jüngerer Zeit kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Lageberichte vom 11. September 2008 S. 32 und vom 29. Juni 2009 S. 24). Für die Einschätzung der Gefährdung ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da sich unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen kein Mensch befand, der der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen Organisation verdächtigt wurde (vgl. Kaya, Gutachten vom B. August 2005 an VG Sigmaringen; OVG Münster, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 18. Juli 2006 - 11 LB 75/06 -, juris). Derartige Personen sind in der Vergangenheit in Deutschland entweder als Asylberechtigte anerkannt worden oder ihnen wurde zumindest Abschiebungsschutz gewährt, Aus dem Fehlen von Referenzfällen kann deshalb nicht der Schluss gezogen werden, dass nunmehr alle in die Türkei zurückkehrenden Flüchtlinge kurdischer Volkszugehörigkeit unabhängig von den Umständen und Besonderheiten des jeweiligen Falles vor politischer Verfolgung hinreichend sicher sind (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 18. Juli 2006 - 11 LB 75/06 (Juris)). Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23. Februar 2006; Taylan, Gutachten vom 29. Mai 2006 an VG Wiesbaden: Kaya, Gutachten vom 10. September 2005 an VG Magdeburg). [...]