VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12.08.2009 - 9 B 37/09 - asyl.net: M16575
https://www.asyl.net/rsdb/M16575
Leitsatz:

Vorbeugender Rechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Griechenland.

Entgegen der Angabe in der Rechtsbehelfsbelehrung des BAMF im Bescheid ist nicht das VG Ansbach örtlich zuständig, da der Antragsteller sich gegenwärtig am Haftort in Schleswig-Holstein aufzuhalten hat (§ 52 Nr. 3 S. 3 VwGO).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Niederlande, Bundespolizei, Abschiebungsanordnung, Zurückschiebung, Bundesamt, Aufgriffsfall, Asylantrag, Rechtsmittelbelehrung, Selbsteintritt, örtliche Zuständigkeit, Zuweisung, Zustellung, Rechtsschutzinteresse, Aufenthaltsgestattung, sichere Drittstaaten, Konzept der normativen Vergewisserung, EU-Kommission,
Normen: AsylVfG § 34a, AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 7, VO Art. 20 Abs. 1 Bst. c, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 4, VwGO § 52 Nr. 2 S. 3, AsylVfG § 50 Abs. 4, VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Entgegen der beabsichtigten Rechtsbehelfsbelehrung des Bundesamtes ist nicht das VG Ansbach, sondern das angerufene Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht örtlich zuständig. Nach § 52 Nr. 2 S. 3 Hs. 1 VwGO ist in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylverfahrensgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat.

Eine Streitigkeit nach dem Asylverfahrensgesetz ist gegeben, soweit der Antragsteller auf der Grundlage einer Entscheidung des für Asylverfahren zuständigen Bundesamtes nach Griechenland abgeschoben werden soll, weil dieses gemäß der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig ist.

Die örtliche Zuständigkeit des Gerichts hängt nach § 52 Nr. 2 S. 3 Hs. 1 VwGO nicht davon ab, wo sich der Asylsuchende tatsächlich aufhält oder wo sein Wohnsitz ist, sondern in erster Linie davon, wo er sich aufzuhalten hat. Die nachrangige Zuständigkeitsregel des § 52 Nr. 2 S. 3 Hs. 2 i.V.m. Nr. 3 (oder auch Nr. 5) VwGO kommt etwa dann in Frage, wenn noch kein Zuweisungsbescheid ergangen ist oder ein ergangener Zuweisungsbescheid widerrufen oder zurückgenommen worden ist (so BVerwG, Beschl. v. 28.07.1997 - 9 AV 3/97 -, so auch Kopp / Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 52 Rd. 11).

Der Antragsteller hat sich gegenwärtig am Haftort in Schleswig-Holstein aufzuhalten, da er hier nach § 62 Abs. 2 AufenthG aufgrund einer richterlichen Entscheidung in Sicherungshaft genommen worden ist. Hinsichtlich der Aufenthaltsbestimmung knüpft das Asylverfahrensrecht hier an. Mit dem wirksam gestellten Asylantrag (§§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 2 AsylVfG) entsteht von Gesetzes wegen eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylVfG. Ein Ausschluss oder eine Beschränkung dieses Aufenthaltsrechts für den Fall, dass der Asylantrag vom Bundesamt nach § 27a AsylVfG als unzulässig zu bewerten sein wird, weil ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, ist nicht vorgesehen. Auf die Ausstellung einer Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylVfG kommt es nicht an; sie hat nur deklaratorische Bedeutung (BVerwGE 79, 291 = InfAuslR 1988, 251). Die Aufenthaltsgestattung wiederum ist räumlich beschränkt auf den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem sich der Asylsuchende aufhält (§ 56 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 14 Abs. 2 S. 1 AsylVfG) – hier der Haftort. Dieser Umstand genügt, um eine Zuständigkeit nach § 52 Nr. 2 S. 3 Hs. 1 VwGO zu begründen, auch wenn daneben keine asylverfahrensrechtlich begründete Aufenthaltspflicht in Form einer Zuweisungsentscheidung besteht. Letzteres beruht darauf, dass der Asylsuchende seinen Asylantrag im Falle der Haft nicht bei einer Außenstelle, sondern direkt beim Bundesamt zu stellen hat (§ 14 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylVfG) und dass die ansonsten bestehende Pflicht, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, während der Dauer der Haft entfällt. Diese Pflicht träte erst dann ein, wenn auch bei Entlassung aus der Haft noch nicht über den Antrag entschieden wäre (§ 47 Abs. 1 AsylVfG). Erst dann wäre auch Raum für eine Zuweisungsentscheidung nach § 50 Abs. 4 AsylVfG.

Nach Auffassung der 13. Kammer des VG Ansbach (Beschl. v. 21.08.2002 - 13 K 02.30459 -, ihm folgend VG Sigmaringen, Beschl. v. 14.05.2004 - A 3K 10724/04 - beide in juris) kann eine den Aufenthalt räumlich beschränkende Regelung einer Zuweisungsentscheidung nicht gleichgestellt werden, weil sie keine Aufenthaltsbestimmung nach den Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes (§§ 44 ff. AsylVfG) darstelle. Die örtliche Zuständigkeit richte sich deshalb nach § 52 Nr. 2 S. 3 Hs. 2, § 52 Nr. 3 und § 52 Nr. 5 VwGO. Der Wortlaut des § 52 Nr. 2 S. 3 VwGO stützt dieses Ergebnis allerdings nicht. Die Bestimmung enthält für eine Differenzierung danach, woraus sich die Pflicht der Aufenthaltsnahme in einem bestimmten Bezirk herleitet, keinen Anhaltspunkt. Sie kann sich nicht nur aus einer Zuweisungsentscheidung, sondern ebenso gut unmittelbar aus dem Gesetz ergeben. Besteht weder Anlass noch Möglichkeit, eine Zuweisungsentscheidung nach dem AsylVfG zu treffen, kann daher ebenso gut auf die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung nach dem AsylVfG abgestellt werden, die sich der aktuell geltenden Aufenthaltsbestimmung jeweils anpasst (vgl. schon VG Ansbach, Beschl. v. 29.08.2001 - AN 10 K 01.31269 - in juris und v. 03.12.1998 - AN 17 K 98.34469 - NVwZ 1999, 328; ebenso BayVGH, Beschl. v. 18.1.2001 - 21 S 00.32364 - in juris).

Bestätigt wird dieser Ansatz auch von der ratio des § 52 Nr. 2 S. 3 Hs. 1 VwGO. Er soll dazu dienen, die dezentrale gerichtliche Bewältigung der Asylverfahren und der damit unmittelbar zusammenhängenden Streitigkeiten zu ermöglichen (BVerwG, Buchholz 310 § 52 VwGO Nr. 11) und ist in diesem Sinne weit auszulegen (Ziekow in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 52 Rd. 18; VG Berlin, Gb. v. 08.02.2001 - 34 X 275.00 -; vgl. auch BayVGH, aaO). Etwas anderes folgt schließlich auch nicht aus der o.g. Entscheidung des BVerwG, da die örtliche Zuständigkeit nicht abschließend vom Vorliegen eines Zuweisungsbescheides abhängig gemacht wird. [...]

Es ist dem Antragsteller auch nicht zuzumuten, die Bekanntgabe des bereits gefertigten Bescheides nach § 34a Abs. 1 AsylVfG abzuwarten. Es scheint nicht nur vorliegend, sondern prinzipielle Vorgehensweise des Bundesamtes zu sein, dass es den betroffenen Ausländern die Abschiebungsanordnung erst so kurz vor der Überstellung aushändigen lässt, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs in der Hauptsache oder auch die Erlangung eines Suspensivrechtsschutzes faktisch vereitelt wird. Dass trotz der Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG ein Suspensivrechtsschutz in Ausnahmefällen möglich sein muss, hat das BVerfG in seiner Entscheidung zu Art. 16a Abs. 2 GG in Fällen der Abschiebung in einen sicheren Drittstaat festgestellt (Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 - BVerfGE 94, 49 ff, in juris Rd. 234). Entsprechendes – näheres dazu unten - wird auch hier zu gelten haben. Die dargestellte Verwaltungspraxis erscheint daher mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar, wird insbesondere auch nicht mit einem Verweis auf § 31 Abs. 1 S. 4 und 5 AsylVfG zu rechtfertigen sein. Das hier geregelte Zustellungsverfahren wird zwar mit den regelmäßig kurzen Rückübernahmefristen begründet (BT-Drs. 12/4450, S. 23) und erlaubt deshalb eine direkte Aushändigung des Bescheides durch die für die Abschiebung zuständige Behörde, äußert sich allerdings nicht dazu, welcher Zeitraum zwischen Bekanntgabe und Abschiebung liegen muss bzw. als noch ausreichend anzunehmen ist (krit. auch Marx, Kom. zum AsylVfG, 7. Aufl., § 31 Rd. 10, 11; § 34 Rd. 33: "zum Objekt des Verfahrens degradiert"). Gerade aus diesem Grunde ist das sonst für Rückführungen und Abschiebungen nach Maßgabe der §§ 3-5 AuslAufnVO zuständige Landesamt für Ausländerangelegenheiten vom Innenministerium des Landes angewiesen, "die Abschiebung mindestens zwei Werktage vor dem Rückführungstermin anzuzeigen, um … die Möglichkeit zu geben, Rechtsschutz beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht zu suchen" (Erlass v. 27.11.2008). [...]

Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes ist wegen der konkret geplanten Abschiebung nach Griechenland gegeben. Selbst wenn die Abschiebung letztlich von der Bundespolizei aufgrund des § 57 Abs. 1 AufenthG als Zurückschiebung vollzogen werden soll, würde dies erst möglich sein, wenn der Bescheid des Bundesamtes nach § 34a Abs. 1 AsylVfG bekanntgegeben und die nach § 55 Abs. 1 AsylVfG gegenwärtig noch bestehende Aufenthaltsgestattung nach § 67 Abs. 1 Nr. 5 AsylVfG damit zum Erlöschen käme. Soweit der Bundesamtsbescheid aber in seiner Vollziehbarkeit ausgesetzt wäre, würde auch die Aufenthaltsgestattung fortgelten und der Zurückschiebung nach § 57 Abs. 1 AufenthG weiterhin entgegenstehen müssen (s. dazu Beschl. im Verfahren 9 B 40/09). [...]

Im Moment der Zustellung läge zwar - noch rechtzeitig - eine verbindliche und vollziehbare Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag vor, um als Rechtsgrundlage für die Abschiebung zu dienen oder jedenfalls den Weg für die Zurückschiebung nach § 57 Abs. 1 AufenthG frei zu machen. Dem Antragsteller wäre damit aber faktisch - wie oben schon ausgeführt - die Möglichkeit genommen, dagegen rechtzeitig vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen und ggf. zu erhalten (anschauliches Szenario bei Marx aaO., § 34a Rd. 33). Dabei ist schon jetzt festzustellen, dass ihm ein solcher Rechtsschutz in der vorliegenden Konstellation nicht allein mit einem Verweis auf die Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG und auf die Einhaltung europarechtlicher Standards für Asylverfahren im Zielstaat Griechenland zu verwehren wäre, weshalb auch schon vor Wirksamwerden der Abschiebungsanordnung des Bundesamtes eine die Wahrnehmung dieses Rechts angemessen sichernde Anordnung geboten ist. [...]

Darüber hinaus hat nunmehr die Europäische Kommission eine Neufassung der Dublin IIV-O vorgeschlagen (KOM (2008) 820, 3. Dezember 2008), in der es ihr u.a. darum geht, "ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten, sowie die Einführung neuer Rechtsgarantien, um den besonderen Bedürfnissen der Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, besser zu entsprechen und gleichzeitig Schutzlücken zu schließen. Hinsichtlich der Auswirkungen auf die gemeinschaftsrechtlichen und völkerrechtlichen Grundrechte führt die Kommission aus: "Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes wird insbesondere durch folgende Maßnahmen erhöht: Festschreibung des Rechts auf einen Rechtsbehelf gegen einen Überstellungsbeschluss sowie des Rechts auf Nichtüberstellung, bis über die Aussetzung des Vollzugs der Überstellung entschieden ist; angemessene Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs nach Zustellung des Überstellungsbeschlusses". Art. 26 Abs. 3 des Vorschlags lautet: "Im Falle einer auf Sach- oder Rechtsfragen gerichteten Überprüfung des Überstellungsbeschlusses gemäß Artikel 25 entscheidet das in Absatz 1 genannte Gericht von Amts wegen so bald wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb von sieben Arbeitstagen nach Beantragung der gerichtlichen Überprüfung über den Verbleib der betreffenden Person im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bis zum Abschluss der Überprüfung". Dieses Vorhaben der EU-Kommission wird vom UNHCR unterstützt (vgl. Anmerkungen des UNHCR vom 18.03.2009; beides zu finden unter www.unhcr.de). [...]

Für ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EU-Vertrag wiederum wäre im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens kein Raum (vgl. VG Frankfurt, aaO.; ablehnend ohnehin: Funke-Kaiser aaO.). In einem Hauptsacheverfahren könnte sich die Frage der Auslegungsfähigkeit des § 34a Abs. 2 AsylVfG anhand von Gemeinschaftsrecht bzw. der Gültigkeit der entsprechenden Regelung der Dublin II-VO naturgemäß nicht stellen. Wegen der bestehenden Zweifel erscheint es daher sachgerecht, wie die 6. und die 12. Kammer des Gerichts in ihren den Beteiligten bekannten Entscheidungen anhand der vom BVerfG entwickelten Grundsätze vorzugehen, dabei aber auch die gemeinschaftsrechtlichen Besonderheiten zu beachten. [...]