OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.10.2009 - 6 S 25.09 - asyl.net: M16579
https://www.asyl.net/rsdb/M16579
Leitsatz:

Altersfeststellung durch zahnärztliches Gutachten - eine ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht für die Annahme, dass ein Schwarzafrikaner, dessen vier Weisheitszähne vollständig durchgebrochen sind, das 18. Lebensjahr vollendet hat. Die Rücknahme der Inobhutnahme ist daher rechtmäßig.

Schlagwörter: SGB VIII, Inobhutnahme, SGB X, Rücknahme, Altersfeststellung, Benin
Normen: SGB VIII § 42, SGB X § 45 Abs. 1
Auszüge:

[...]

aa) Zweifel an seiner Altersangabe sind bereits durch die Feststellungen der Sozialarbeiterinnen des Antragsgegners gerechtfertigt, die sich gesprächsweise einen persönlichen Eindruck von dem Antragsteller verschafft haben. Sie haben dabei eine tiefe Stimmlage des Antragstellers sowie einen männlichen Körperbau festgestellt.

bb) Weiter wird die Annahme, dass der Antragsteller bei seiner Inobhutnahme bereits das 18. Lebensjahr vollendet hatte, wesentlich durch die unbestrittenen tatsächlichen Feststellungen im Gutachten des Zahnarztes Dr. ... vom 14. Juli 2009 gestützt. Dr. ... hat den Antragsteller persönlich untersucht und dabei festgestellt, dass bei diesem alle vier Weisheitszähne seit längerem vollständig bis zur Kauebene durchgebrochen sind. Seine Schlussfolgerung, der Antragsteller sei mindestens 18 Jahre alt oder älter, ist - zumal vor dem Hintergrund allgemeiner, in diese Richtung weisenden Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen - ohne weiteres nachvollziehbar. Es bedarf insoweit auch nicht der weiteren Befragung des Gutachters oder ergänzender Aufklärungsmaßnahmen.

Soweit das Verwaltungsgericht an einen Hinweis des Antragstellers anknüpft, wonach in Teilen Schwarzafrikas der Durchbruch der Weisheitszähne durchschnittlich mit 14 Jahren erfolge, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Aus dem Zusammenhang der Darstellung in dem vom Antragsteller zitierten Beitrag "Altersschätzung bei Kindern und Jugendlichen - Grundsatzfragen" von Marre/Hetzer ergibt sich, dass dort mit dem Begriff "Durchbruch" die Penetration der Mundschleimhaut durch die Zahnkrone lediglich eines der sog. Weisheitszähne gemeint sein dürfte. Daraus lässt sich aber - anders als das Vorbringen des Antragstellers offenbar suggerieren will - nicht folgern, dass bei Schwarzafrikanern im Durchschnitt im Alter von 14 Jahren alle vier Weisheitszähne bereits vollständig durchgebrochen sind und die Kauebene erreicht haben. Bei Auswertung der aktenkundigen Erkenntnismittel ergibt sich hinsichtlich der Altersbestimmung durch Untersuchung der Eruption und des Entwicklungsstandes der Weisheitszähne vielmehr ein anderes Bild. Zwar setzen Durchbruch und Wachstum der Weisheitszähne bei Schwarzafrikanern deutlich früher ein bzw. sind deutlich früher abgeschlossen, als etwa bei Mitteleuropäern. Die verschiedenen Studien zur Altersbestimmung durch Ermittlung des Durchbruchs und Entwicklungsstandes der dritten Molaren (sog. Weisheitszähne) weisen jedoch jeweils unterschiedliche Ergebnisse auf. In einer Studie von Otuyemi u.a. aus dem Jahr 1997 wird festgestellt, dass der Durchbruch der Weisheitszähne bei Jungen aus Schwarzafrika im Alter von 14 Jahren und bei Mädchen im Alter von 13 Jahren begann. Alle vier Weisheitszähne waren danach jedoch erst im Durchschnittsalter von 17,5 Jahren durchgebrochen. Der Anteil der 14jährigen, die bereits alle Weisheitszähne aufwiesen, betrug dagegen lediglich 1,1 % der insgesamt 1071 Probanden (Quelle: C. Peschke, Untersuchungen zum zeitlichen Verlauf der Weisheitszahneruption einer europiden Population, Diss. HU Berlin, 2007, S. 54 f.; Marre/Hetzer, a.a.O., S. 44) - eine im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigbare Größenordnung. Das jüngste Durchschnittsalter wurde im Rahmen einer 1960 von Chagula durchgeführten Studie an 990 männlichen Ugandern im Alter von 6 bis 26 Jahren ermittelt. Danach beträgt die Wahrscheinlichkeit des Durchbruchs aller dritten Molaren im Alter von 14 Jahren 1/10, im Alter von 16 Jahren 1/2 im Alter von 18 Jahren 3/5 und im Alter von 21 Jahren 4/5 (Quelle: C. Peschke, a.a.O., S. 53). Andere Studien gelangen zu deutlich abweichenden Ergebnissen. Eine von Hassanali im Jahre 1985 an 1343 Kenianern aus Nairobi durchgeführte Studie ergab, dass erst im Alter von 18,5 Jahren die Wahrscheinlichkeit, dass alle dritten Molaren durchgebrochen waren, bei 50 % lag (Quelle: Peschke, a.a.O., S. 56 f.; Marre & Hetzer, a.a.O., S. 45). Nach einer Studie von Ajmani aus dem Jahr 1986 konnte an den Probanden (1238 Nordnigerianer im Alter zwischen 11 und 23 Jahren) erst mit 18 (weiblich) bzw. 18,5 Jahren (männlich) der Durchbruch der Weisheitszähne festgestellt werden (Quelle: C. Peschke, a.a.O., S. 54; Marre & Hetzer, a.a.O., S. 45). Geht man davon aus, dass es im günstigsten Fall mindestens ein Jahr dauert (Olze spricht in seinem Gutachten vom 1. September 2008 sogar von einem Zeitraum zwischen zwei und vier Jahren, Bl. 64 ff. der Streitakte), bis ein Weisheitszahn von seinem initialen Durchbruch bis zur Kauebene gewachsen ist, lässt sich - trotz aller in Rechnung zu stellenden Unwägbarkeiten - aus diesen Studien in der gebotenen Gesamtschau folgern, dass statistisch gesehen eine ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, dass ein Schwarzafrikaner, dessen vier Weisheitszähne vollständig durchgebrochen sind, also die Kauebene erreicht haben, das 18. Lebensjahr vollendet hat. [...]