OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 04.12.2009 - 7 A 10881/09.OVG - asyl.net: M16602
https://www.asyl.net/rsdb/M16602
Leitsatz:

Zur Ausweisung eines straffällig gewordenen türkischen Staatsangehörigen der zweiten Generation, der nicht assoziationsberechtigt (ARB 1/80) ist. Die Ausweisung ist nicht unverhältnismäßig, da nach § 36 Abs. 2 AufenthG eine Wiedereinreise zu seinen Eltern und Geschwistern im Falle einer außergewöhnlichen Härte, zunächst auch ohne Sicherung des Lebensunterhalts, in möglich ist.

Schlagwörter: Ausweisung, türkische Staatsangehörige, Aufenthaltserlaubnis, Assoziationsberechtigte, besonderer Ausweisungsschutz, Sonstige Familienangehörige, regulärer Arbeitsmarkt, Achtung des Privatlebens, Befristung, Sperrwirkung, Wiedereinreise, außergewöhnliche Härte
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, ARB 1/80 Art. 7 S. 1, GG Art. 2 Abs. 1, EMRK Art. 8, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 36 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Kläger, ein 1987 in Deutschland geborener türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung und begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. [...]

2. Rechtsgrundlage der Ausweisung des Klägers ist § 53 Nr. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (1. Alternative des § 53 Nr. 1 AufenthG). Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil der Kläger vom Landgericht F. wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten (u.a. Raub, räuberische Erpressung und gefährliche Körperverletzung) rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt worden ist.

a) Ein besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG steht dem Kläger nicht zu. Er kann sich insbesondere nicht auf die Bestimmung des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG berufen, die voraussetzt, dass der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Zwar wurde er im Bundesgebiet geboren und hat sich hier auch über fünf Jahre rechtmäßig aufgehalten. Er besitzt jedoch - seit 20. Juli 2004 - keine Aufenthaltserlaubnis mehr. Notwendig ist der tatsächliche Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Es genügt nicht, dass eine solche - wie hier im Oktober 2007 - beantragt wurde (vgl. Beschluss des Senats vom 2. Dezember 2008, a.a.O.; BayVGH, Beschluss vom 13. März 2006 - 24 ZB 05.3191 -, juris; Armbruster, in: HTK-AuslR, Stand: November 2009, § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Anm. 1 m.w.N.).

b) Dem Kläger steht auch kein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei - ARB 1/80 - zu, so dass die für eine Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen geltenden besonderen Vorgaben, wonach diese unter anderem nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ergehen darf (vgl. BVerwGE 121, 315; Hailbronner, AuslR, Stand: August 2009, Vor § 53 AufenthG Rn. 43 f.), keine Anwendung finden.

In Betracht kommt hier allein der Erwerb einer assoziationsrechtlich privilegierten Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80. Danach haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - folgt aus dem Beschäftigungsrecht eines Familienangehörigen nach dieser Bestimmung das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts. Dabei sind auch im Aufnahmemitgliedstaat geborene volljährige Kinder eines türkischen Arbeitnehmers von der Begünstigung des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 umfasst (vgl. EuGH, NVwZ 2005, 198 - Cetinkaya -; OVG RP, InfAuslR 2005, 238). Unerheblich ist, aus welchem Grund dem türkischen Arbeitnehmer Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet genehmigt wurden (vgl. EuGH, InfAuslR 2009, 93 - C. -). Der Erwerb der Rechtsstellung aus Art. 7 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 durch ein Kind eines türkischen Arbeitnehmers setzt indes voraus, dass der Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedsstaats angehört und dass das Kind bei diesem seit mindestens drei Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz hat. Diese beiden Voraussetzungen müssen gleichzeitig vorliegen. Der Arbeitnehmer muss demnach zumindest während der dreijährigen Dauer des Zusammenlebens mit dem Kind die Voraussetzungen der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt erfüllt haben (vgl. EuGH, InfAuslR 2009, 93 - C. -, Rn. 22, 30, 33 und 37).

An dieser Voraussetzung fehlt es hier. Der Vater des Klägers gehörte nicht während der Zeit des Zusammenlebens mit seinem Sohn für die Dauer von mindestens drei Jahren dem regulären Arbeitsmarkt in Deutschland an.

Der Begriff des "regulären Arbeitsmarkts" bezeichnet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften die Gesamtheit der Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats nachkommen und somit das Recht haben, eine Berufstätigkeit in dessen Hoheitsgebiet auszuüben. Ein türkischer Arbeitnehmer gehört trotz einer vorübergehenden Unterbrechung seines Arbeitsverhältnisses für den Zeitraum, der angemessen ist, um eine andere Beschäftigung zu finden, weiterhin dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedsstaats an, und zwar unabhängig davon, welchen Grund die Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt hat, sofern diese Abwesenheit vorübergehender Natur ist. Ein türkischer Arbeitnehmer ist erst dann vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen, wenn er objektiv keine Möglichkeit mehr hat, sich in den Arbeitsmarkt wieder einzugliedern, oder den Zeitraum überschritten hat, der angemessen ist, um nach einer vorübergehenden Beschäftigungslosigkeit eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden (vgl. EuGH, InfAuslR 2009, 93 - C. -, Rn. 23 - 25 und 27 f.). Eine unverschuldete Arbeitslosigkeit von sechs Monaten im Anschluss an eine Erwerbstätigkeit von zweieinhalb Jahren steht der weiteren Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt nicht entgegen (vgl. nochmals EuGH, InfAuslR 2009, 93 - C. -, Rn. 26 und 40).

Hieran gemessen gehörte der Vater des Klägers nach dessen Geburt im Jahre 1987 und der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis im Jahre 1992 mit Aufnahme seiner Erwerbstätigkeit im Mai 1993 dem regulären Arbeitsmarkt an, nachdem er ausweislich des Versicherungsverlaufs der Deutschen Rentenversicherung vom 9. Juni 2008 zuvor letztmals im Jahre 1982 beschäftigt war. Er stand sodann vom 17. Mai bis 31. Juli 1993, vom 16. August bis 21. September 1993 und vom 27. April bis 9. August 1994 in einem Beschäftigungsverhältnis, mithin in dem Zeitraum von Mai 1993 bis August 1994 mit Unterbrechungen für insgesamt rund sieben Monate. Anschließend war er bis Dezember 2002 und somit für mehr als acht Jahre arbeitslos mit Ausnahme einer kurzfristigen Beschäftigung in der Zeit vom 20. bis 25. Juni 1997, in der er indes keine Arbeitserlaubnis besaß. Er ist demnach nicht nur vorübergehend, sondern lang andauernd arbeitslos gewesen und damit aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgeschieden. Es kann dabei dahinstehen, ab welchem Zeitpunkt genau er nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat. Dies ist jedenfalls vor Ablauf der nach Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 maßgeblichen Frist von drei Jahren erfolgt. Denn der sich an seine Erwerbstätigkeit von rund sieben Monaten in der Zeit von Mai 1993 bis August 1994 (= 16 Monate) anschließende Zeitraum von 20 Monaten bis zum Ablauf der Dreijahresfrist ist nicht mehr als angemessen anzusehen, um nach einer vorübergehenden Beschäftigungslosigkeit eine neue Beschäftigung zu finden, zumal weder dargetan noch sonst ersichtlich ist, dass sich der Vater des Klägers mit begründeter Aussicht auf Erfolg um eine Arbeitsstelle bemüht hätte. Da der Vater während des maßgeblichen Zeitraums des Zusammenlebens mit dem Kläger von drei Jahren lediglich mit Unterbrechungen insgesamt rund sieben Monate während eines Zeitraums von 16 Monaten erwerbstätig und anschließend langfristig arbeitslos war, steht dies seiner weiteren Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt bis zum Ablauf der Dreijahresfrist entgegen.

Dies gilt auch dann, wenn sein Vater, wie vom Kläger geltend gemacht, arbeitslos gemeldet gewesen und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestanden haben sollte. Diesem Umstand kommt keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Denn der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat in der Rechtssache C. (vgl. InfAuslR 2009, 93) nicht wie Generalanwalt D. in seinem Schlussantrag (vgl. EuGH, Schlussantrag des Generalanwalts vom 11. September 2008 - C - 337/07 - juris, Rn. 61) die Antwort auf die Frage nach der Zugehörigkeit eines Arbeitslosen zum regulären Arbeitsmarkt vornehmlich davon abhängig gemacht, ob der Betroffene bei den zuständigen Stellen als Arbeitssuchender gemeldet ist, sondern, wie oben ausgeführt, - wenn kein Fall der objektiven Unmöglichkeit der Wiedereingliederung vorliegt - auf die Dauer der Beschäftigungslosigkeit abgestellt, worauf bereits das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat.

Der Kläger hat eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 auch nicht dadurch erworben, dass er nach dem Ende seiner Unterbringung in einem Heim im Mai 2002 erneut mit seinem Vater in häuslicher Gemeinschaft gelebt und dieser am 9. Dezember 2002 eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat. Hiergegen spricht bereits, dass der Kläger am 26. November 2003 und damit vor dem Ende der Dreijahresfrist inhaftiert worden ist, so dass die häusliche Gemeinschaft mit seinem Vater ab diesem Zeitpunkt wieder aufgehoben sein dürfte. Entscheidend kommt hinzu, dass die Geltungsdauer des dem Kläger zuletzt erteilten Aufenthaltstitels am 19. Juli 2004 und damit ebenfalls vor dem Ende der Dreijahresfrist ausgelaufen ist. Seitdem ist sein Aufenthalt und Wohnsitz im Bundesgebiet nicht mehr ordnungsgemäß i.S.v. Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 (vgl. EuGH, InfAuslR 1997, 281 - K. -).

c) Nach alledem greift die Vorschrift des § 53 Nr. 1 AufenthG hier ein, die die Ausweisung des Klägers als zwingende Rechtsfolge vorsieht. Diese Folge verstößt nicht aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falles gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Eine Ausweisung stellt einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers dar, der in materieller Hinsicht am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen ist. Die Maßstäbe, die für die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privatlebens (neben dem Schutz des Familienlebens) gelten, sind auch hier heranzuziehen (vgl. BVerfG, InfAuslR 2007, 443 [444] m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - zu Art. 8 EMRK, die auch als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dient (vgl. BVerfG, NVwZ 2004, 852), sind bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme eines Erwachsenen, der noch keine eigene Familie gegründet hat, folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen (vgl. EGMR, InfAuslR 2008, 333 - G. - m.w.N.): Die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten; die Dauer seines Aufenthalts in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll; die seit der Begehung der Delikte verstrichene Zeit und das Verhalten des Ausländers während dieser Zeit sowie die sozialen, kulturellen und familiären Beziehungen zum Gastland und zum Zielstaat der Ausweisung. Bei der Anwendung einiger dieser Kriterien kann das Alter des Ausländers von Bedeutung sein. So ist bei der Beurteilung von Art und Schwere der begangenen Straftaten zu berücksichtigen, ob der Ausländer sich diese als Jugendlicher oder als Erwachsener zu Schulden hat kommen lassen. Bei der Bewertung der Dauer des Aufenthalts und der Bindungen im Gastland macht es einen Unterschied, ob der Betroffene bereits als Kind hergekommen ist oder sogar hier geboren wurde, oder ob er erst als Erwachsener zugezogen ist. Ist neben dem Privatleben auch der Schutz des Familienlebens betroffen, so sind zusätzlich die familiäre Situation und die durch Art. 6 GG geschützten familiären Bindungen des Ausländers zu berücksichtigen (vgl. zum Ganzen Beschluss des Senats vom 19. Februar 2009 - 7 B 11328/08.OVG -, ESOVGRP).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze stellt sich die Ausweisung des Klägers auch unter Berücksichtigung der durch Art. 8 EMRK geschützten Belange nicht als unverhältnismäßig dar.

Der Kläger wurde insbesondere wegen Raubes, räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung in zahlreichen Fällen zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Zwar hat er die Taten als Jugendlicher begangenen. Sie stellen aber gleichwohl schwerwiegende Straftaten von erheblichem Gewicht dar, wie auch in dem hohen Strafmaß zum Ausdruck kommt. Die gegen ihn verhängte Jugendstrafe von sechs Jahren und neun Monaten überschreitet die in § 53 Nr. 1 AufenthG für eine zwingende Ausweisung normierte Voraussetzung einer Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren sogar deutlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung eines straffällig gewordenen Ausländers in den Fällen der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG grundsätzlich ausschlaggebendes Gewicht einräumt, wenngleich dies nicht zum Ausschluss einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung oder einer lediglich "schematisierenden" Würdigung führen darf (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 53 AufenthG Rn. 12 f. m.w.N.). Bei den vom Kläger begangenen Straftaten handelt es sich auch nicht um reine Eigentums- oder Vermögensdelikte. Vielmehr waren sie regelmäßig mit der Anwendung oder Androhung von Gewalt gegenüber den Opfern verbunden (vgl. die den Verurteilungen zugrunde liegenden zahlreichen Fälle von gefährlicher Körperverletzung, räuberischer Erpressung und Raub). Einen Teil dieser Taten hat er überdies nach seiner erstmaligen Verurteilung und Inhaftierung - ersichtlich unbeeindruckt hiervon - in der Jugendstrafanstalt zum Nachteil anderer Mitgefangener begangen.

Hinsichtlich des Verhaltens des Klägers nach Begehung der Straftaten, derentwegen er im November 2003 inhaftiert worden war, ist festzustellen, dass er sich bis Juni 2008 in Haft befand und während dieser Zeit, wie bereits erwähnt, erhebliche Straftaten zum Nachteil seiner Mitgefangenen begangen hat und ausweislich des Berichts der Jugendstrafanstalt vom 24. April 2008 bis zuletzt immer wieder durch massive Regelverstöße aufgefallen ist. Zu seinen Gunsten ist zu berücksichtigen, dass er erstmals in Haft gewesen ist und dabei dem genannten Bericht der Jugendstrafanstalt zufolge immerhin insoweit eine positive Entwicklung genommen hat, dass diese seiner vorzeitigen Entlassung nach dem Schuljahresende 2008 zugestimmt hat, worauf das Amtsgericht die Vollstreckung des noch nicht verbüßten Strafrestes zu Bewährung ausgesetzt hat. Allerdings ist er, wie der Vorfall in der Berufsschule W. am 5. Februar 2009 zeigt, auch wenn man zu seinen Gunsten nur den von ihm eingeräumten Teil zugrunde legt, nach der Entlassung aus der Haft neuerlich mit negativen Verhaltensweisen in Erscheinung getreten, durch die er seinen Mitmenschen Angst eingeflößt hat. Ferner enthält der genannte Bericht der Jugendstrafanstalt neben der Zustimmung zur vorzeitigen Entlassung des Klägers und der Schilderung positiver Entwicklungsansätze auch kritische Aussagen zu seinem Verhalten und damit eine lediglich eingeschränkt positive Prognose. So äußert sich der Mitarbeiter des Pädagogischen Dienstes der Jugendstrafanstalt dahin gehend, dass der Kläger sich insgesamt im Vollzug zum Positiven verändert habe, wenngleich er - auch in der letzten Zeit - immer wieder durch massive Regelverstöße aufgefallen sei, und dies insoweit zu denken gebe, ob er doch gewisse deviante Verhaltensmuster schon zu stark internalisiert habe. Außerdem hat der Kläger seine ersten in der Haft erzielten schulischen Erfolge - Erwerb des Hauptschulabschlusses und Besuch des ersten Jahres der Berufsfachschule mit Auszeichnung - unter den Bedingungen der Freiheit nicht fortzusetzen vermocht. Vielmehr hat er die Ausbildung an der Berufsfachschule in W., nachdem er laut Mitteilung seiner Bewährungshelferin häufig unentschuldigt vom Unterricht ferngeblieben ist, Anfang 2009 abgebrochen. Er besucht nunmehr seit September 2009 einen zweijährigen Kurs an der Volkshochschule M. zur Erlangung eines Realschulabschlusses. Vor diesem Hintergrund teilt der Senat auch unter Berücksichtigung des Berichts der Jugendstrafanstalt und der vollstreckungsrechtlichen Aussetzungsentscheidung des Amtsgerichts die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass angesichts des Verhaltens des Klägers nach seiner Haftentlassung, auch wenn es bislang nicht zu dem ihm bereits angedrohten Widerruf der Vollstreckungsaussetzung gekommen ist, ihm in aufenthaltsrechtlicher Sicht eine günstige Sozialprognose nicht gestellt werden kann.

Der Kläger ist im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen, was einen gewichtigen gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechenden Abwägungsgesichtspunkt darstellt. Allerdings hat er stets nur befristete Aufenthaltstitel (von Februar 1992 bis Juli 2004) und nie ein Daueraufenthaltsrecht besessen. Er ist auch ledig, kinderlos und ein junger Mann von 22 Jahren. Zudem besitzt er lediglich einen Hauptschulabschluss, aber keine abgeschlossene Berufsausbildung. Andererseits leben seine Eltern und Geschwister ebenfalls in Deutschland. Er unterstützt seine psychisch kranke Mutter, indem er sie beispielsweise bei Arztbesuchen oder beim Einkaufen begleitet oder beim Wäschewaschen hilft. Es kann allerdings nicht angenommen werden, dass seine Mutter, die von ihrem Ehemann getrennt lebt, auf seine Unterstützung zwingend angewiesen ist. Seinen eigenen Angaben zufolge kümmern sich um sie vielmehr (zumindest) auch sein Bruder Ü., wenngleich dieser berufsbedingt tagsüber abwesend ist, und sein geistig behinderter Bruder E., der bei der Mutter lebt, sowie dessen Freundin, die tagsüber in die Wohnung der Mutter kommt.

In der Türkei hat der Kläger seinen Angaben zufolge keine Verwandten mehr. Bezüglich seiner Sprachkenntnisse hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 4. Dezember 2009 angegeben, er habe sich bis zu seinem elften Lebensjahr, das heißt bis zu seiner Heimunterbringung, problemlos in Türkisch verständigen können. Mit seiner Mutter habe er vor seiner Heimunterbringung auf jeden Fall türkisch gesprochen. Türkisch sei selbstverständlich seine Muttersprache. Türkisch lesen und schreiben habe er indes nicht gekonnt. Seit dem Ende seiner Heimunterbringung verständige er sich nicht mehr in Türkisch. Er könne selbst einen Döner im Dönerladen nicht mehr richtig in türkischer Sprache bestellen, ohne von dortigen Türken ausgelacht zu werden. Mit seiner Mutter unterhalte er sich nur über das Notwendigste, er spreche dann "gebrochen türkisch". Der Senat geht dabei zugunsten des Klägers davon aus, dass er aufgrund seiner mehrjährigen Heimunterbringung schlechtere Türkischkenntnisse hat als sein Bruder Ü. und bei Verständigungsschwierigkeiten mit seiner Mutter, seinen Bruder oder dessen Frau um Hilfe bittet. Insofern bestand kein Anlass, den vom Kläger zum Beweis dieser Behauptung als Zeugen angebotenen Bruder Ü. zu vernehmen. Der Senat teilt indes nicht die Selbsteinschätzung des Klägers, dass er "fast kein Türkisch mehr spreche" - so schriftsätzlich mit der Berufungsbegründung geltend gemacht - bzw. "kein Türkisch und deshalb auch nicht übersetzen könne" - so seine Angabe in der mündlichen Verhandlung vom 4. Dezember 2009. Dies steht bereits in unauflöslichem Widerspruch zu seinen in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben, wonach er mit seiner Mutter "gebrochen türkisch" spreche und er auch, wenngleich "nicht mehr richtig", in einem Dönerladen einen Döner in türkischer Sprache bestellt habe. Der Kläger hat jedenfalls bis zum elften Lebensjahr die türkische Sprache als seine Muttersprache erlernt und beherrscht; auch nach seiner Heimunterbringung hat er den Kontakt zu seiner Familie nicht völlig verloren und insbesondere den Umgang mit seiner Mutter, die nach seinen eigenen Angaben "nur ein paar Brocken Deutsch" kann, nach seiner Haftentlassung täglich gepflegt. Deshalb ist der Kläger nach Überzeugung des Senats mit der türkischen Sprache zumindest noch in einem Maße vertraut, dass es ihm bei einer Rückkehr in die Türkei möglich ist, hieran anzuknüpfen und - gerade als noch junger Mann - bestehende Kenntnislücken zu schließen sowie anfängliche Verständigungsschwierigkeiten zu bewältigen.

Vor diesem Hintergrund kann der Senat nicht feststellen, dass die Ausweisung des Klägers aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falles unverhältnismäßig ist, auch wenn die Schwierigkeiten, denen sich der im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kläger in der Türkei, dem Zielstaat der Ausweisung, gegenübersehen wird, nicht als gering anzusehen sind. Hierfür spricht im Übrigen auch, dass der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 16. Mai 2008 gegenüber der Ausländerbehörde des Beklagten selbst eine Ausreise für den Fall der Befristung auf 18 Monate nach Abschluss der Schule angeboten hat.

Dies gilt umso mehr, als der Beklagte die Wirkungen der Ausweisung bereits mit Erlass der Ausweisungsverfügung befristet hat. Gegen die Länge der Frist von dreieinhalb Jahren sind rechtliche Bedenken weder dargetan noch ersichtlich.

Fehl geht der Einwand des Klägers, die hier ausgesprochene Befristung sei ohne praktische Wirkung, weil er als lediger, unverheirateter und volljähriger Mann keinen Anknüpfungspunkt für ein erneutes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet habe; eine endgültig wirkende Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation sei unverhältnismäßig, da er im Bundesgebiet, wo auch seine Eltern und Geschwister lebten, geboren und aufgewachsen sei. [...]

Da die Eltern und vier Geschwister des Klägers in Deutschland leben, bietet ihm § 36 Abs. 2 AufenthG einen Anknüpfungspunkt für die Neubegründung eines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet. Sofern zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK eine Rückkehrmöglichkeit erforderlich sein sollte, wäre im Wege einer verfassungskonformen Auslegung das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte i.S.v. § 36 Abs. 2 AufenthG und - jedenfalls zunächst - eine Ausnahme vom Regelfall des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Sicherung des Lebensunterhalts) zu bejahen, um dem Kläger die Möglichkeit zu geben, in der Bundesrepublik - auch wirtschaftlich - (erneut) Fuß zu fassen (vgl. Beschluss des Senats vom 4. März 2008 - 7 A 10575/07.OVG -). Den sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Anforderungen hinsichtlich der Möglichkeit einer Wiedereinreise ins Bundesgebiet kann mithin hinreichend auf der Ebene der Auslegung der Vorschriften über die Erteilung eines Aufenthaltstitels Rechnung getragen werden. Der gegenteiligen Auffassung des Klägers, wonach seine Ausweisung unverhältnismäßig sei, weil er im Vergleich zu anderen straffällig gewordenen Ausländern der zweiten Generation, die ein Kind oder einen Ehegatten in Deutschland hätten, keine realistische Aussicht auf Wiedereinreise ins Bundesgebiet habe, kann auch deswegen nicht gefolgt werden, weil sie zu einem Wertungswiderspruch führen würde. Obwohl der Kläger als lediger und kinderloser Erwachsener über weniger schutzwürdige Bindungen im Bundesgebiet verfügt als ein Ausländer der zweiten Generation mit Kind oder Ehegatten im Bundesgebiet, wäre im Gegensatz zu diesem bei ihm, folgte man seiner Auffassung, nicht einmal eine vorübergehende Aufenthaltsbeendigung möglich. [...]