VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 28.01.2010 - M 23 E 09.60088 - asyl.net: M16652
https://www.asyl.net/rsdb/M16652
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Griechenland nach teilweiser Rücknahme des Asylantrags.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, teilweise Rücknahme des Asylantrags, Griechenland
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 26a, AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 2
Auszüge:

[...]

Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 02.09.09 ließ der Antragsteller den am 05.08.09 gestellten Asylantrag zurücknehmen und beantragen, die Prüfung auf das Vorliegen von Abschiebungshindernissen i.S.v. § 60 Abs. 2-7 AufenthG zu beschränken.

Am 19.10.09 erließ das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) folgenden Bescheid:

1. Das Asylverfahren wird eingestellt.

2. Die Abschiebung nach Griechenland wird angeordnet. [...]

Der vorliegende Antrag auf Erlass einer Sicherungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat Erfolg. Der Antrag, der auf eine Aussetzung der Abschiebung nach Griechenland gerichtet ist, ist ausnahmsweise statthaft.

Dem Antrag steht die grundsätzlich zwingende Vorschrift des § 34 a Abs. 2 AsylVfG ausnahmsweise im Hinblick auf die besondere Lage, in die ein nach Griechenland abgeschobener Asylbewerber gerät, nicht entgegen. Zwar darf nach dem Wortlaut des § 34 a Abs. 1 AsylVfG die Abschiebung nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden und ein Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO wäre danach bereits unstatthaft. Die genannte Vorschrift, die dem Eilrechtsschutz grundsätzlich entgegensteht, ist jedoch einer verfassungskonformen Auslegung zu unterziehen. Eine vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO kommt ausnahmsweise dann in Betracht, wenn Zweifel daran bestehen, ob in dem Mitgliedstaat der Europäischen Union, in den der Asylbewerber abgeschoben werden soll, das vom deutschen Grundgesetz in Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG vorausgesetzte und vom europäischen Verordnungsgeber durch die Verordnung (EG Nr. 343/2003) etablierte Verfahren eingehalten wird bzw. Zweifel daran bestehen, ob der betreffende Staat noch ein sicherer Drittstaat im Sinn des § 26 a AsylVfG i.V.m. Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG ist.

Das Gericht geht hier von einem die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für das hier anhängige Verfahren zulassenden Sonderfall aus, weil auch das Bundesverfassungsgericht nunmehr in zahlreichen Eilverfahren die Vollziehung von Abschiebungen nach Griechenland vorläufig untersagt hat (u.a. Beschlüsse vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, vom 23. September 2009 - 2 BvQ 68/09 -, vom 9. Oktober 2009 - 2 BvQ 72/09 , und 22. Dezember 2009 -2 BvR 2879/09 ). Auf zwischen dem verfassungsprozessualen und verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz bestehende Unterschiede kommt es dabei nicht an. Entscheidend für die ausnahmsweise anzunehmende Zulässigkeit verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes ist, dass das Bundesverfassungsgericht unter Berücksichtigung umfangreichen Beschwerdevorbringens zur Situation von Asylantragstellern in Griechenland Anlass zur Untersuchung sieht, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung bei der Anwendung von § 34 a Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften ist. Die Entscheidung hat eine über den Einzelfall hinausgehende Tragweite. Vor dem Hintergrund, dass das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerden und Eilanträge von vor den Verwaltungsgerichten unterlegenen Antragstellern Abschiebungen nach Griechenland wiederholt untersagt hat, besteht Anlass, bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorläufigen Rechtsschutz nicht an der Anwendung des § 34 Abs. 2 AsylVfG scheitern zu lassen.

Die begehrte einstweilige Anordnung auf vorläufige Untersagung der Abschiebung des Antragstellers ist deshalb zu erlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Ausgang der jeweiligen Verfassungsbeschwerdeverfahren als offen angesehen. Mithin ist auch offen, inwieweit der Antragsteller im hier anhängigen verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren mit seinem Begehren, seine Abschiebung zu verhindern und im Ergebnis eine Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 -7 AufenthG durch das Bundesamt zu erreichen, durchdringen könnte. Deswegen ist auch im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren eine Folgenabwägung vorzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich u.a. ausgeführt:

"Bliebe dem Antragsteller der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegte er aber in der Hauptsache, könnten möglicherweise bereits eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden. So wäre bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in Griechenland für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt, sollte, wie von ihm, gestützt auf ernst zu nehmende Quellen, befürchtet, ihm in Griechenland eine Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die Obdachlosigkeit drohen. Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe, wiegen dagegen hier weniger schwer. Insbesondere widerspricht die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bei Überstellungen nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 besteht nicht. Vielmehr sieht das Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat nach deren Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 selbst vor."

Diesen Ausführungen schließt sich das Gericht an (so auch VG Minden, Beschluss vom 10. September 2009 - 9 L 474/09.A; VG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Oktober 2009 - 18 L 1542/09.A; VG Berlin, Beschluss vom 22.10.2009 - 33 L 225.09; VG Saarbrücken, Beschluss vom 27.10.2009 - 2 L 1443/9; VG Oldenburg, Beschluss vom 9.November 2009 - 8 L 2837/09; VG Frankfurt, Beschluss vom 16. November 2009 - 7 L 3684/09; OVG Lüneburg, Beschluss vom 19. November 2009 -13 MC 186/9; VG Koblenz, Beschluss vom 30. November 2009 - 4 L 1211/09.KO; VG Arnsberg, Beschluss vom 15. Dezember 2009 - 8 L 699/09.A und VG Frankfurt, Beschluss vom 6. Januar 2010 - 7 L 319/09.A ).

Ohne das es hierauf noch ankommt, weist das Gericht darauf hin, dass es die Zweifel der Bevollmächtigten, an der Zuständigkeit des Bundesamtes für die erlassene Abschiebungsanordnung nach Rücknahme des Asylantrages, im Hinblick auf die Regelung des § 34 a Abs.1 S. 2 AsylVfG, nicht teilt. [...]