VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 13.01.2010 - 1 A 3954/06 - asyl.net: M16708
https://www.asyl.net/rsdb/M16708
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsverheiratung in der Türkei.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Türkei, Zwangsehe, geschlechtsspezifische Verfolgung, soziale Gruppe, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die Klägerin kann jedoch in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. HS AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung wegen der ihr in der Türkei drohenden Zwangsverheiratung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG beanspruchen. [...]

Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen hat die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass ihr im Falle einer Rückkehr in die Türkei geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1, 3, 4 Buchst, c AufenthG droht, die von ihrer Familie - insbesondere dem Vater - ausgeht und durch die zumindest ihre körperliche Unversehrtheit und Freiheit aktuell bedroht wird.

Das Gericht geht danach davon aus, dass die Klägerin in der Türkei von ihrem Vater massiv unter Druck gesetzt würde, zwangsverheiratet zu werden. Nach der bereits zuvor erfolgten Zwangsverheiratung ihrer Schwester und dem nach dem Tode der Mutter nicht mehr bestehenden innerfamiliären Schutz muss die Klägerin auch davon ausgehen, dass ihr Vater eine Eheschließung durchsetzen würde. Dass in der Türkei Zwangsverheiratungen und bei einer Weigerung der Frau auch sogenannte "Ehrenmorde" durchaus vorkommen, bestätigt auch der letzte Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2009 (Blatt 14 f.).

Die von der Klägerin glaubhaft gemachte Gefahr der ihr drohenden Zwangsverheiratung in der Türkei erfüllt den Tatbestand einer allein an ihr Geschlecht anknüpfenden Bedrohung ihrer körperlichen Unversehrtheit und Freiheit (vgl.: VG Stuttgart, Urteil vom 29. Januar 2007 - A 4 K 1877/06 -; VG München, Urteil vom 20. Juni 2007 - M 24 K 07.50265 -; jeweils zitiert nach juris). Die geschlechtsspezifische Verfolgung ist im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG als Untergruppe des Verfolgungsgrundes "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" anerkannt (vgl. z.B. VG Freiburg, Urteil vom 20. April 2005 - A 5 K 10956/03 und VG Hamburg, Urteil vom 07. November 2005 - 4 A 1970/03 -; jeweils zitiert nach juris). Die Klägerin gehört der Gruppe der jungen Frauen aus Familien an, deren traditionelles Selbstverständnis und archaisch-patriarchalische Vorstellungen es gebieten, für sie einen Ehemann auszusuchen und sie auch gegen ihren Willen mit ihm zu verheiraten, ohne dass der Frau bei der Auswahl des Ehegatten ein Mitspracherecht zukommt. Da für die Klägerin infolge der zwangsweisen Verheiratung eine individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellte wäre, liegt eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung i.S.v. Art. 9 Abs. 1 QRL vor.

Die Klägerin ist von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG bedroht, worunter auch private Personen - hier die Familienmitglieder, insbesondere der Vater der Klägerin - zu zählen sind. Effektiven Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. C AufenthG vermag der türkische Staat hiergegen nicht zu gewähren. Das VG München (a.a.O.) hat hierzu in einem vergleichbaren Verfahren ausgeführt:

"Zu prüfen bleibt daher, ob der Schutz der Klägerin vor der ihr drohenden Zwangsverheiratung in der Türkei generell gewährleistet war und ist. Dies wäre dann zu bejahen, wenn der türkische Staat erwiesenermaßen in der Lage und willens ist, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c, insoweit wortgleich mit Art. 6 Buchst. c QRL). Dabei ist zu berücksichtigen, ob der Staat geeignete Schritte eingeleitet hat, um die Verfolgung generell zu verhindern, ob er also beispielsweise für wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung und Strafverfolgung und Ahndung von Verfolgungshandlungen gesorgt hat und Zugang zu diesem Schutz besteht (vgl. Art. 7 Abs. 2 QRL). In diesem Zusammenhang weist das Bundesamt darauf hin, dass nach der Gesetzeslage in der Türkei Zwangsehen verboten seien und unter Zwang zustande gekommene Ehen angefochten werden könnten. Mit diesen und weiteren Vorschriften zeige der türkische Staat seine Bereitschaft, die Eingehung von Zwangsehen zu bekämpfen. Auch werden "Ehrenmorde" inzwischen öffentlich missbilligt, die Strafandrohung ist verschärft worden (vgl. Lagebericht S. 32).

Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass die Türkei - schon im Zusammenhang mit dem erstrebten Beitritt zur Europäischen Union - ihrer Gesetze entsprechend europäischen Vorstellungen, insbesondere von der Gleichberechtigung der Frau angepasst hat. Damit erweist sie sich zwar als willens, Schutz vor der hier beachtlichen Verfolgung zu bieten, allein sie ist dazu in der sozialen Realität - zumindest derzeit - noch nicht in der Lage. Dies ergibt sich bereits aus den im jüngsten Lagebericht geschilderten Erkenntnissen, die von weiterhin fortbestehenden traditionellen Zwangsverheiratungen insbesondere - aber nicht nur - in den rückständigen Gebieten Anatoliens ausgehen, und dementsprechend auch von Morden und Selbsttötungen im Zusammenhang mit verweigerten Zwangsehen berichten. Keine Berichte liegen hingegen darüber vor, dass tatsächlich eine wirksame Strafverfolgung in den entsprechenden Fällen stattgefunden hätte. Es fehlt insbesondere an nachhaltigen Kampagnen des Staates oder der Medien, großangelegten Aufklärungsaktionen in der türkischen Öffentlichkeit, Einbeziehung des Themas in die schulische Erziehung etc., Maßnahmen also, die als Basis für ein Aufbrechen der tradierten Strukturen unerlässlich sind. Allein eine Anpassung der Gesetzeslage an europäische Vorstellungen reicht nicht aus, um die jahrhundertealten patriarchalischen Strukturen nachhaltig zu verändern (vgl. Lagebericht S. 32: "Die gesellschaftliche Wirklichkeit hinkt in weiten Teilen der Türkei noch weit hinter den letzten gesetzlichen Entwicklungen her."). Im Ergebnis hatte und hat die Klägerin keinen wirksamen Zugang zum staatlichen Schutz, denn als 18-jährige Frau kann sie kaum ohne Gefährdung der eigenen Person durch ihre Angehörigen staatliche Hilfe gegen deren Nachstellungen in Anspruch nehmen. Es stellt sich sogar die Frage, ob sie zumutbarer Weise darauf verwiesen werden könnte, Anzeige gegen ihre eigenen Angehörigen zu stellen. Allein dies birgt die realistische Gefahr, dass sie aus dem Familienverband ausgestoßen würde und ohne familiäre Hilfe in eine ausweglose Situation käme. Trotz entsprechendem gesetzlichen Auftrag gibt es in der Türkei immer noch viel zu wenig Frauenhäuser, um die Klägerin darauf verweisen zu können, dort Schutz zu suchen (vgl. Fortschrittsbericht der Europäischen Union zur Türkei, vorgestellt am 08.11.2006, S. 18; Gutachten Kaya v. 20.2.2005 an das VG Schleswig, S. 4)."

Dieser Auffassung schließt sich das erkennende Gericht an.

Schließlich besteht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4, letzter Halbsatz AufenthG). Eine solche liegt gem. Art. 8 Abs. 1 QRL vor, wenn für den Ausländer in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Gem. Art. 8 Abs. 2 QRL sind bei der Prüfung dieser Frage die dortigen allgemeinen Gegebenheiten sowie die persönlichen Umstände des Ausländers zum Zeitpunkt der Entscheidung zu berücksichtigen.

Nach diesen Maßstäben steht der Klägerin keine innerstaatliche Fluchalternative zur Verfügung. Sie kann sich der ihr drohenden Verfolgung durch Umsiedlung in eine westtürkische Großstadt unter Abtauchen in die Anonymität nicht entziehen. Sie hat dort insbesondere keine Verwandten, unter deren Schutz sie sich stellen könnte und die in der Lage wären, sie aufzunehmen und zumindest für eine Übergangszeit zu versorgen. Im Übrigen wäre auch bei einem der Familie bekannten Aufenthaltsort in der Türkei ihre Sicherheit latent gefährdet. Ein "Untertauchen" in einer Großstadt wie etwa Istanbul würde ihr zwar Verfolgungssicherheit bieten, es ist jedoch nicht erkennbar, wie sie ohne Hilfe von Freunden oder Verwandten ihr tägliches Überleben gestalten könnte. Als junge Frau, die seit fast 15 Jahren in Deutschland lebt, könnte sie sich allenfalls durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, wäre jedoch der Gefahr ausgesetzt, in Kriminalität und Prostitution abzurutschen. Angesichts dessen kann von der Klägerin vernünftigerweise nicht erwartet werden, internen Schutz in der Türkei zu suchen. Eine auf Dauer gesicherte menschenwürdige Existenz wäre dort nicht möglich. [...]