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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 10.02.2010 - 5397393-438 - asyl.net: M16745
https://www.asyl.net/rsdb/M16745
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann in den Provinzen/Regionen Bagdad, Ninive (mit Schwerpunkt Mosul) und Diyala zwar nicht ausgeschlossen werden, es drohen bei einer Rückkehr jedoch keine erheblichen individuellen Gefahren.

Schlagwörter: Asylverfahren, Irak, Yeziden, Gruppenverfolgung, Zentralirak, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Qualifikationsrichtlinie, Ninive
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

Soweit sich die Ausländer auf die Situation der Yeziden im Irak berufen, führt dies nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Yeziden sind als religiöse Minderheit im Irak nach wie vor einem erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt. Seit dem Jahr 2007, in dem es noch zu schweren Anschlägen mit einer hohen Opferzahl kam, ging die Zahl yezidischer Opfer politischer Verfolgung jedoch deutlich zurück.

Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte (vgl. BVerwG, U. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08) lässt sich derzeit nicht mehr feststellen.

Die Zahl der Yeziden im Irak liegt nach Angaben des Auswärtigen Amtes Schätzungen zufolge zwischen 200.000 und 600.000 (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12.08.2009, Az.: 508-516.8013 ). Nach anderen Schätzungen leben noch zwischen 500.000 und 600.000 Yeziden im Irak (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report 2009. Iraq. October 26, 2009. www.state.gov/g/drl/rls/irf/2009/127348.htm; United States Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2009, May 2009, Iraq.

http:/www.uscirf.gov/images/AR2009/final%20ar2009%20with%20cover.pdf). Die Hauptsiedlungsgebiete der Yeziden befinden sich auf zentralirakischem Gebiet in der Provinz Ninive, dem Jebei Sinjar und der Sheikhan-Region.

Zwar kommt es weiterhin zu Angriffen auf Yeziden und zu Diskriminierung. Jedoch seit den koordinierten Anschlägen auf die yezidische Bevölkerung im August 2007, bei denen zwei yezidische Dörfer zerstört und über 700 Personen getötet wurden (vgl. United States Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2009, May 2009, lraq, www.uscirf.gov/imagesAR20091final%20ar2009%20with %20cover.pdf), nach anderen Schätzungen wurden über 400 Personen getötet (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report 2009, Iraq, September 19, 2008), sind keine größeren Anschläge gegen Yeziden mehr bekannt geworden.

Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung ist deshalb eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit.

Das Sachvorbringen der Antragsteller zu 1) und zu 2) genügt nicht den Anforderungen eines substantiierten Sachvortrages. [...]

Die Schilderungen der Antragsteller vermochten zu keinem Zeitpunkt der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 25.11.2009 den Eindruck einer tatsächlich erlebten Begebenheit zu erwecken, Dazu waren die Vorbringen in ihrer Wortwahl zu farblos, kurz und ohne Anklang von Nebensächlichkeiten. Die Aussage muss als glatt und lediglich zielgerichtet gewertet werden.

Das eigenständige Sachvorbringen der Antragsteller erschöpfte sich in wenigen Sätzen. Die skizzierte Bedrohungssituation vermochten die Ausländer auf Fragen nicht zu substantiieren. Ihre Äußerungen blieben weiterhin an der Oberfläche und vermittelten keinen anderen Eindruck.

Der Inhalt und der Verlauf des Gespräches verdeutlichten, dass sich die Ausländer nicht wegen der geschilderten Bedrohungssituation in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten.

Da für die Antragsteller zu 3) bis 5) keine eigenständigen Ausreisegründe vorgetragen wurden, mussten deren Anträge ebenfalls erfolglos bleiben. [...]

Von der Abschiebung in das Herkunftsland ist gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch abzusehen, wenn der Ausländer als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.

Die durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.08.2007 neu in das AufenthG eingefügte Bestimmung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entspricht nach Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts trotz teilweise geringfügig abweichender Formulierung den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c QualfRL. Insbesondere müssen die Gefahren auch infolge willkürlicher Gewalt drohen. Dieses in Art. 15 Buchst. c QualfRL genannte Merkmal ist zwar nicht ausdrücklich in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG übernommen worden, ist aber im Rahmen des Abschiebungsverbots dennoch zu prüfen, da die Begründung zum Entwurf des Richtlinienumsetzungsgesetzes ausdrücklich darauf verweist, dass § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Tatbestandsmerkmale des Art. 15 Buchst. C QualfRL umfasst und den subsidiären Schutz in Fällen willkürlicher Gewalt regelt (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.).

Im Herkunftsland der Antragsteller oder der Region des Herkunftslandes, aus der die Antragsteller kommen, muss ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegen.

Die Antragsteller stammen aus der Provinz Ninive.

Aufgrund der hohen Zahl der Vorfälle mit Todesopfern kann das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in den Provinzen/Regionen Bagdad, Ninive (mit Schwerpunkt Mosul) und Diyala nicht ausgeschlossen werden.

Voraussetzung für eine mögliche Schutzgewährung ist weiterhin, dass die Antragsteller Angehörige der Zivilbevölkerung sind.

Dies ist vorliegend der Fall.

Voraussetzung für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist außerdem, dass den Antragstellern im Rahmen des bewaffneten Konflikts erhebliche individuelle Gefahren für Leib oder Leben drohen.

Da in einem bewaffneten Konflikt typischerweise zunächst einmal allgemeine Bedrohungen im Vordergrund stehen, sind diese von den für eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu fordernden, den Antragstellern individuell drohenden Gefahren abzugrenzen. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, der bei Vorliegen allgemeiner Gefahren die Entscheidung über eine Schutzgewährung im Verfahren des Bundesamtes sperrt und den obersten Landesbehörden im Rahmen des § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zuweist, ist dabei richtlinienkonform dahin auszulegen, dass § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 c QualfRL keine Sperrwirkung entfaltet (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.).

Den Antragstellern drohen aufgrund der gegebenen Situation bei einer Rückkehr keine erheblichen individuellen Gefahren.

Als Umsetzungsnorm des Art. 15 c QualfRL ist § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG im Einklang mit der Richtlinie auszulegen. In diesem Zusammenhang kommt der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) eine die Mitgliedstaaten bindende Wirkung zu. Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale "ernsthafte individuelle Bedrohung" und "willkürliche Gewalt` haben sich auf europäischer Ebene der EuGH (Urteil der Großen Kammer vom 17.02.2009 zum Vorabentscheidungsersuchen des Nederlandse Raad van State - C-465/07) und auf nationaler Ebene das BVerwG (Urteile vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.) geäußert.

Eine Schutzgewährung nach Art. 15 c QualfRL kommt dann in Betracht, wenn eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vorliegt. Das Merkmal "willkürliche Gewalt" schließt dabei nach der Entscheidung des EuGH auch Fälle ein, in denen sich die Bedrohung auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Das Vorliegen einer solchen ernsthaften individuellen Bedrohung der subsidiären Schutz suchenden Person "setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist." Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann vielmehr auch dann "ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden (...) ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet des Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein." Der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, kann aber umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende möglicherweise belegen kann, dass er aufgrund von in seiner persönlichen Situation liegenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH-Urteil a.a.O.).

Diese Auslegung deckt sich mit der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG als Umsetzungsnorm des Art. 15 c QualfRL dann in Betracht kommt, wenn sich die allgemeine, von einem bewaffneten Konflikt ausgehende Gefahr so verdichtet, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte ähnliche Kriterien gelten, wie im Bereich des Flüchtlingsrechts für den dort maßgeblichen Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung. Allgemeine Lebensgefahren, die lediglich Folge des bewaffneten Konflikts sind, wie etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der Versorgungslage, können nicht in die Bemessung der Gefahrendichte einbezogen werden. Eine allgemeine Gefahr kann sich aber insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person des Schutzsuchenden so zuspitzen, dass diese ernsthaft und wahrscheinlich Gefahr läuft, in ihren fundamentalsten Grundrechten (Leib oder Leben) verletzt zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.).

Sowohl der EuGH als auch BVerwG gehen davon aus, dass Situationen willkürlicher Gewalt (EuGH) bzw. einer Verdichtung allgemeiner Gefahren (BVerwG), die das für die Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau erreichen, Ausnahmecharakter haben. Dies belegt auch der Erwägungsgrund Nr. 26 zur QualfRL, wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe des Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise. keine individuelle Bedrohung darstellen.

Eine derartige Ausnahmesituation ist vorliegend nicht gegeben.

Selbst wenn man vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in der Herkunftsregion der Antragsteller ausgeht, bestünde für sie als Angehörige der Zivilbevölkerung keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG.

Der in der Herkunftsregion der Antragsteller herrschende Konflikt erreicht kein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass sie bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefen, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

Das Auswärtige Amt stellte zwar im Lagebericht vom 06.10.2008 noch fest, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor verheerend sei, konstatierte aber auch eine deutliche Abnahme der sicherheitsrelevanten Vorfälle seit Frühjahr 2007. Die Nachhaltigkeit dieser Verbesserung bleibe allerdings abzuwarten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 06.10.2008). Inzwischen ist festzustellen, dass die Zahl der zivilen Opfer im Irak insgesamt deutlich zurückgegangen ist. In den drei Provinzen Bagdad, Ninive und Diyala, in denen (zusammen mit der Provinz Salahaddin) die Hälfte der irakischen Einwohner lebt, ereigneten sich zwar auch im Jahr 2008 die meisten Vorfälle mit den höchsten Opferzahlen, jedoch ist ebenso wie in den übrigen Regionen eine deutliche Abnahme festzustellen.

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Das U.S.-Verteidigungsministerium berechnete, dass im Zeitraum Juni - September 2008 gegenüber dem Vergleichszeitraum 2007 die Zahl der täglichen Angriffe in Bagdad um 73 % und in den Provinzen Ninive, Diyala, Tamim und Salahaddin um 32 % zurückgegangen sei (vgl. U.S. Department of Defense, September 2008: Measuring Stability and Security in Iraq - Report to the Congress, vwm.defenselink.mil). Im Bericht vom Dezember 2008 wird ein erneuter Rückgang gegenüber dem vorherigen Berichtszeitraum von 9 % in Bagdad und 22 % in den übrigen Provinzen festgestellt (U.S. Department of Defense, December 2008: Measuring Stability and Security in Iraq - Report to the Congress, www.defenselink.mil).

Laut Iraq Body Count waren 2008 die Provinzen Bagdad, Ninive und Diyala die Regionen mit den meisten Vorfällen und höchsten Opferzahlen (vgl. zu den Ereignissen im Einzelnen die Zusammenstellungen der Organisation Iraq Body Count, http//www.iraqbodycount.org). In Relation zur Einwohnerzahl bedeutet dies, dass in Diyala 105 Todesopfer auf 100.000 Einwohner kamen, in Bagdad 50 und in Ninive 41.

Damit kann nicht von einem für die Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderlichen Maß an Verdichtung allgemeiner Gefahren ausgegangen werden. Dies gilt auch unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer sowie der Tatsache, dass die Betroffenheit nicht allein anhand der Todesfälle bewertet werden darf. Belastbare Zahlen oder Schätzungen zu anderen Menschenrechtsverletzungen liegen allerdings nicht vor. Allein die dokumentierten Vorfälle mit Todesopfern zeigen jedoch, dass die Zahl der Opfer im Verhältnis zur ansässigen Bevölkerung bei Weitem nicht das nach den vergleichsweise heranzuziehenden Vorgaben für eine Gruppenverfolgung im Bereich Flüchtlingsschutz erforderliche Ausmaß erreicht. Selbst in den beiden am stärksten betroffenen Provinzen Bagdad und Ninive mit mehr als einem Vorfall pro Tag im Jahr 2008 bewegt sich die Zahl der Todesopfer im Promillebereich.

Eine erhebliche individuelle Gefahr kann sich auch nicht daraus ergeben, dass der für die Schutzgewährung erforderliche Grad willkürlicher Gewalt aufgrund von Umständen, die sich aus der persönlichen Situation der Antragsteller herleiten lassen, niedriger einzustufen wäre.

Solche individuellen gefahrerhöhenden Umstände haben die Antragsteller weder vorgetragen, noch waren sie sonst erkennbar. [...]