VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 18.02.2010 - 10 K 737/09 - asyl.net: M16781
https://www.asyl.net/rsdb/M16781
Leitsatz:

Ausweisung eines anerkannten GFK-Flüchtlings wegen Straftaten.

Schlagwörter: Ausweisung, Straftat, besonderer Ausweisungsschutz, Niederlassungserlaubnis, Asylanerkennung, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Qualifikationsrichtlinie, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Genfer Flüchtlingskonvention, Wiederholungsgefahr, faktischer Inländer, Verwurzelung, Integration
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2 Nr. 5, GFK Art. 32 Abs. 3 S. 1, RL 2004/83/EG Art. 24 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 5, GFK Art. 28 Abs. 1, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Nach der für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BVerwG, Urt. v. 13.01.2009, 1 C 2/08, Juris; Urt. v. 15.11.2007, 1 C 45/06, Juris) ist die Ausweisungsverfügung rechtmäßig.

aa. Gemäß § 53 Nr. 1 AufenthG wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist. [...]

bb. Der Kläger genießt allerdings besonderen Ausweisungsschutz gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 5 AufenthG.

Gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG genießt ein Ausländer besonderen Ausweisungsschutz, der eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen, da ihm bereits am 07.05.1987 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, die als Niederlassungserlaubnis fortgilt (§ 101 Abs. 1 S. 1 AufenthG).

Die Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 AufenthG liegen ebenso vor, weil der Kläger mit Bescheid vom 04.03.1987 gemäß Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a.F. als Asylberechtigter anerkannt wurde.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht erfüllt ist dagegen der Tatbestand des § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG, da die Klägerin zu 2) die Scheidung beantragt hat und die Eheleute keine (Wieder-) Aufnahme der familiären Lebensgemeinschaft planen.

Der Umstand, dass der Kläger mehrere Privilegierungstatbestände des § 56 Abs. 1 S. 1 AufenthG erfüllt, führt zu keinem weiterreichenden Schutz als dies bei Vorliegen nur eines einzelnen Tatbestands der Fall wäre (vgl. zu § 48 AuslG 1990: VGH Mannheim, Urt. v. 31.03.2003, 13 S 516/02, Juris).

(1.) Ein Ausländer, der besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 S. 1 AufenthG genießt, wird nur aus "schwerwiegenden Gründen" der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen, § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG. Solche Gründe sind hier gegeben.

Ob vorliegend aufgrund der in Art. 24 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie, kurz QRL) zum Ausdruck kommenden Wertung "zwingende" anstelle "schwerwiegender" Gründe zu fordern sind, kann dahinstehen, da dies in der Sache zu keinem strengeren Maßstab führte.

Hintergrund dieser Überlegung ist, dass Flüchtlinge – und damit auch Asylberechtigte (vgl. § 2 AsylVfG) – gemäß Art. 24 Abs. 1 S. 1 QRL einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis haben, es sei denn, dass "zwingende" Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegen stehen.

Da die Ausweisung gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG auch im Fall der Asylberechtigung des Ausgewiesenen zum Wegfall des Aufenthaltstitels führt, spricht Einiges dafür, dass im Rahmen der Ausweisung nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, S. 2 AufenthG kein anderer Maßstab angelegt werden kann als bei der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 QRL – also zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung vorliegen müssen.

Was unter "zwingenden" Gründen im Sinne des Art. 24 Abs. 1 QRL zu verstehen ist, wird allerdings in der Richtlinie nicht definiert.

Dass zur Auslegung des Begriffs auf Art. 28 Abs. 3 der ebenfalls am 29.04.2004 verabschiedeten Richtlinie 2004/38/EG (sog. Freizügigkeits- bzw. Unionsbürger-Richtlinie) zurückgegriffen werden kann (so VG Münster, Urt. v. 26.05.2009, 8 K 734/08, Juris), ist nicht anzunehmen, da nicht davon auszugehen ist, dass Flüchtlinge denselben Schutzstatus wie Unionsbürger erhalten sollten. Der Schutz von Flüchtlingen und der Schutz von Unionsbürgern ist nicht nur in verschiedenen EG-Richtlinien auf der Grundlage nicht vergleichbarer primärrechtlicher Ermächtigungen geregelt, sondern vor allem auch inhaltlich völlig unterschiedlich ausgestaltet.

Sachgerecht erscheint es, zur Auslegung des Art. 24 Abs. 1 QRL stattdessen auf Art. 28 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.07.1951, BGBl. 1953 II S. 560 – kurz GFK) zurückzugreifen, der ebenfalls diesen Begriff enthält (ebenso VGH München, Beschl. v. 10.07.2009, 10 ZB 09.950, Juris; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, 2009, Teil 2, Kap. 13 § 47 Rn. 16). Danach ist der Begriff der zwingenden Gründe eng auszulegen. Der Anlass für die Ausweisung muss schwerwiegend sein (vgl. Marx, a.a.O., § 47 Rn. 16). Dies entspricht der bereits von § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG aufgestellten Eingriffsschwelle.

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG liegen dann vor, wenn das öffentliche Interesse an der Einhaltung von Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat. Bei der Auslegung des Begriffs ist auf die besonderen Umstände des Einzelfalls, insbesondere auf das Strafmaß, die Schwere des Eingriffs in ein besonders geschütztes Rechtsgut, die daraus erwachsenden Folgen und die Häufigkeit der bisher begangenen Rechtsverstöße abzustellen (vgl. auch Ziffer 56.1.0.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetzt, kurz VV-AufenthG, vom 26.10.2009, veröffentlicht im Gemeinsamen Ministerialblatt v. 26.10.2009, S. 878 ff.).

Nach § 56 Abs. 1 S. 3 AufenthG liegen solche Gründe "in der Regel" unter anderem in den Fällen des § 53 AufenthG vor. [...]

Zwar dürften die vom Kläger verwirklichten Einzeldelikte, anders als etwa Gewalt- oder Drogendelikte, eher dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein. Ausgeglichen wird dies aber durch die Häufigkeit seiner Straftaten. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung können auch dann vorliegen, wenn ein Ausländer eine Vielzahl von Straftaten begangen hat, die zwar nicht einzeln, aber in ihrer Gesamtheit, insbesondere unter Berücksichtigung von Häufigkeit und Kontinuität, die gesteigerten Anforderungen an Ausweisungsanlass und Wiederholungsgefahr im Rahmen des § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG erfüllen (vgl. zu § 48 Abs 1 AuslG 1990 i.V.m. § 48 Abs 3 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990: VGH Mannheim, Urt. v. 08.01.2002, 10 S 777/01, Juris). [...]

Da schon die spezialpräventiven Erwägungen für sich die Ausweisung tragen, bedarf auch keiner Entscheidung, ob bereits die Flüchtlingseigenschaft bzw. Asylberechtigung der Berücksichtigung generalpräventiver Erwägungen von vorneherein entgegensteht (vgl. in diesem Zusammenhang, allerdings bezogen auf Ermessenserwägungen: BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, 1 C 7/04, Juris; sh. zu diesem Gedanken auch VG Münster, Urt. v. 26.05.2009, a.a.O.). [...]

Auch die Tatsache, dass der Kläger als Asylberechtigter wegen der von ihm begangenen Straftaten nicht in den Iran abgeschoben werden kann, schließt seine Ausweisung nicht aus. Eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Zweck sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers in sein Heimatland, sondern "nur" zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führt (BVerwG, Urt. v. 31.08.2004, 1 C 25/3 u. Beschl. v. 18.08.1995, 1 B 55/95, beide in Juris). [...]

Die Beklagte ging hier zu Recht von einer Regelausweisung nach § 56 Abs. 1 S. 4 AufenthG aus.

Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung liegt vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der EMRK geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007, a.a.O.). Auch Belange, die ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG bilden und damit zu einer Aussetzung der Abschiebung führen können, können bei der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, berücksichtigt werden. Damit wird das Verhältnis von Abschiebungsaussetzungsgründen zur Ausweisung nicht verkannt. Zwar lassen Abschiebungshindernisse nach § 60a Abs. 3 AufenthG die Ausreisepflicht unberührt. Daraus folgt jedoch nicht, dass alles, was auf der Ebene der Durchsetzung der Ausreisepflicht eine Rolle spielt, für die Ebene der Begründung der Ausreisepflicht irrelevant wäre. Vielmehr zeigt gerade die Regelung des § 55 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG, dass es nach Auffassung des Gesetzgebers erforderlich ist, die Entscheidung über die Ausweisung gleichsam vorgreifend mit den eine Aussetzung der Abschiebung erfordernden Gründen zu verknüpfen. Dies bedeutet nicht, dass das bloße Vorliegen eines Abschiebungshindernisses notwendig einen Ausnahmefall begründet. Erforderlich ist, dass das Abschiebungshindernis eine Atypik bildet, die so bedeutsam ist, dass sie jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt, also die Regelvermutung, eine Ausweisung sei geboten und verhältnismäßig, entkräftet. Günstige, eine Atypik begründende Umstände dürfen nicht im Wege einer Interessenabwägung mit der Folge relativiert werden, dass ein Ausnahmefall nicht vorliegt. Raum für eine umfassende Interessenabwägung ist erst bei der auf die Bejahung eines Ausnahmefalls folgenden Ermessensausübung (VGH Mannheim, Beschl. v. 20.11.2007, 11 S 2364/07, Juris).

Vorliegend gebieten weder durch höherrangiges Recht noch durch Vorschriften der EMRK geschützte Belange des Klägers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles.

Ein solches Erfordernis ergibt sich insbesondere nicht unter dem Gesichtspunkt des "faktischen Inländers" aus Art. 8 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 686, 953 / 1954 II S. 14, kurz EMRK). [...]

Nach diesem Maßstab ist der Kläger nicht zum "faktischen Inländer" geworden.

Art. 8 Abs. 1 EMRK gebietet daher keine Einzelfallabwägung und steht der Annahme eines Regelfalls nach § 56 Abs. 1 S. 4 AufenthG nicht entgegen.

Der knapp 48-jährige Kläger hat sich auch nach fast 25 Jahren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht in einem solchen Maß in die hiesigen Verhältnisse integriert, dass von einer Verwurzelung im vorbezeichneten Sinne gesprochen werden könnte.

In wirtschaftlicher Hinsicht gelang ihm keine Integration. Trotz der Ausübung verschiedener beruflicher Tätigkeiten in den vergangenen Jahren konnte der Kläger sich keine Existenz aufbauen. Obwohl ihm aufgrund seines ausländerrechtlichen Status die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit stets offen stand, nutzte er diese Chance nicht, sondern verhinderte immer wieder durch eigenes Verschulden (z.B. Kassendiebstahl, Entzug der Fahrerlaubnis) eine dauerhafte Erwerbstätigkeit, indem er straffällig wurde. Heute schuldet er eine Wiedergutmachung von Schäden aus den begangenen Straftaten in Höhe mehrerer Zehntausend Euro.

Bedeutsam ist die Tatsache, dass der Kläger seit nunmehr 22 Jahren beharrlich die deutsche Rechtsordnung missachtet. Er wurde zu einem einschlägig vorbestraften Wiederholungstäter, ist Bewährungsversager und fügt sich damit unter keinen Umständen in die hiesigen Verhältnisse ein.

Der Kläger verfügt auch nicht über enge soziale Bindungen im Bundesgebiet. Seine Ehe scheiterte nach kurzer Zeit. Eigene Kinder hat er nicht. Von einer neuen Lebensgefährtin ist nichts bekannt. Zwar hält sich seine Schwester mit ihren Kindern in Hamburg auf, seine Eltern und übrigen drei Geschwister leben aber noch im Heimatland.

Im Übrigen scheint der Kläger nach seiner Persönlichkeitsstruktur ohne weiteres in der Lage zu sein, Ortswechsel unschwer zu verkraften. In seiner Kindheit verbrachte er Zeiten in den USA, als Heranwachsender studierte er in der Schweiz, als junger Mann lebte er einige Jahre in Argentinien und studierte dort Chemie. Auch in Deutschland wechselte er mehrfach seinen Wohnort und gelangte so von Baden-Württemberg über Nordrhein-Westfalen nach Hamburg.

Alleine die Tatsache, dass sich der Kläger seit 1985 rechtmäßig in Deutschland aufhält, vermag nicht den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK zu begründen. [...]

bb. Die Vollziehbarkeit der gesetzlichen Ausreisepflicht ist nicht Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung (VG Hamburg, Urt. v. 12.05.2009, 10 K 447/08; OVG Münster, Beschl. v. 20.02.2009, 18 A 2620/08, Juris; Hailbronner, AuslR, 64. Aktualisierung Juni 2009, § 59 Rn. 15; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand Oktober 2009, § 59 Rn. 33; Hofmann/Hoffmann, a a.O., § 59 Rn. 4). [...]