OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 26.02.2010 - 2 B 511/09 - asyl.net: M16783
https://www.asyl.net/rsdb/M16783
Leitsatz:

a) Die Schutzpflichten aus Art. 6 GG, die prinzipiell erst ab der Geburt eines Kindes einsetzen, können in besonders gelagerten Ausnahmefällen Vorwirkungen mit der Folge entfalten, dass die beabsichtigte Abschiebung auch eines werdenden Vaters unzumutbar sein kann.

b) Eine solche Sondersituation ist dann anzunehmen, wenn eine Gefahrenlage für das ungeborene Kind und/oder die Mutter wegen einer sogenannten Risikoschwangerschaft besteht und die Unterstützung der Schwangeren durch den abzuschiebenden Ausländer zumindest überwiegend wahrscheinlich ist.

c) Die wegen einer Risikoschwangerschaft der Ehefrau des abzuschiebenden Ausländers gebotene einstweilige Verpflichtung der Behörde, von der zwangsweisen Beendigung seines Aufenthaltes im Bundesgebiet abzusehen, ist hinsichtlich ihrer Dauer auf die Zeit der Schwangerschaft seiner Ehefrau zuzüglich eines in Anlehnung an § 6 Abs. 1 MuSchG bestimmten Zeitraumes von acht Wochen nach der Geburt zu begrenzen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Schutz von Ehe und Familie, Schwangerschaft, Risikoschwangerschaft, Vorwirkung, vorläufiger Rechtsschutz, Duldung,
Normen: GG Art. 6, MuSchG § 6 Abs. 1, VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Ebenso wie danach ein Anordnungsgrund steht den Antragstellern derzeit ein Anordnungsanspruch zur Seite, da nach dem Ergebnis des Beschwerdeverfahrens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die Abschiebung des Antragstellers zu 1. gegenwärtig im Verständnis von § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG rechtlich unmöglich ist, weil sie unzumutbar in seine durch Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG geschützten familiären Beziehungen zu den Antragstellerinnen zu 2. und 3. eingriffe. [...]

Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. z.B. BVerfG, Beschlüsse vom 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – zitiert nach Juris, und vom 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – NVwZ 2006, 682), der der Senat folgt, ist soweit hier wesentlich von folgenden Grundsätzen auszugehen: Die in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu fördern und zu schützen hat, verpflichtet die Ausländerbehörden bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an Familienangehörige, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, bedeutungsangemessen zu berücksichtigen. Bei der insoweit gebotenen Einzelfallwürdigung ist in Rechnung zu stellen, dass die Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft eine wesentliche Grundlage für die leibliche und seelische Erziehung des Kindes bildet.

Besteht eine solche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, etwa wenn dem Kind wegen seiner Beziehungen zur Mutter ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. [...]

Zudem ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung anknüpfend an die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze anerkannt, dass die Schutzpflichten aus Art. 6 GG, die prinzipiell erst ab der Geburt eines Kindes einsetzen, in besonders gelagerten Ausnahmefällen Vorwirkungen mit der Folge entfalten können, dass die beabsichtigte Abschiebung auch eines werdenden Vaters unzumutbar sein kann. Eine solche Sondersituation ist dann anzunehmen, wenn eine Gefahrenlage für das ungeborene Kind und/oder die Mutter wegen einer sogenannten Risikoschwangerschaft besteht und die Unterstützung der Schwangeren durch den abzuschiebenden Ausländer zumindest überwiegend wahrscheinlich ist. Denn die Gefahr, dass die werdende Mutter unter diesen Umständen durch eine abschiebungsbedingte Trennung Belastungen ausgesetzt ist, die die Leibesfrucht gefährden, ist ungleich höher als bei einer vorübergehenden Trennung während einer normal verlaufenden Schwangerschaft (vgl. in diesem Zusammenhang OVG des Saarlandes, Beschluss vom 24.4.2008 – 2 B 199/08 -; OVG Bautzen, Beschluss vom 25.1.2006 – 3 BS 274/05 -, zitiert nach Juris; OVG Magdeburg, Beschluss vom 15.4.2008 – 2 M 84/08 -, zitiert nach Juris).

Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe spricht bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung im Beschwerdeverfahren mehr dafür als dagegen, dass der Antragsgegner in Anbetracht der derzeitigen familiären Gegebenheiten der Antragsteller gehalten ist, von der zwangsweisen Beendigung des Aufenthaltes des Antragstellers zu 1. abzusehen. Das gilt sowohl mit Blick auf Bindungen zwischen dem Antragsteller zu 1. und der Antragstellerin zu 3. als auch mit Blick auf seine Beziehung zur Antragstellerin zu 2.. Allerdings ist dem Verwaltungsgericht darin beizupflichten, dass der durch Art. 6 GG gewährleistete Schutz des familiären Zusammenlebens der Antragsteller nicht generell die Beendigung des Aufenthaltes des Antragstellers zu 1. in der Bundesrepublik Deutschland hindert. Denn das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass keine Umstände dargetan oder sonst überwiegend wahrscheinlich sind, die es den Antragstellern unzumutbar machten, ihre familiäre Lebensgemeinschaft in der Türkei fortzuführen. [...]

Eine Sondersituation, die es den Antragstellern unzumutbar macht, zum derzeitigen Zeitpunkt in die Türkei umzuziehen und dort ihre familiäre Lebensgemeinschaft fortzusetzen, besteht jedoch darin, dass bei der Antragstellerin zu 2. nach der bereits genannten fachärztlichen Bescheinigung von Dr. med. K., deren Richtigkeit von dem Antragsgegner nicht in Abrede gestellt wird und von der mangels sonstiger gegenteiliger Erkenntnisse für das vorliegende Verfahren auszugehen ist, eine Schwangerschaft besteht, die wegen einer 2006 erlittenen Fehlgeburt als Risikoschwangerschaft einzustufen ist. Die Schwangerschaft ist zwar erst am 4.1.2010 und demnach nach Ablauf der mit Zustellung des angefochtenen Beschlusses am 2.12.2009 in Gang gesetzten Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO zur Beschwerdebegründung festgestellt worden. Die Regelungen des § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO stehen ihrer Berücksichtigung im vorliegenden Beschwerdeverfahren gleichwohl nicht entgegen, da nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 27.2.2009 – 2 B 469/08 – unter Bezugnahme auf VG des Saarlandes, Beschluss vom 30.1.2009 – 1 B 315/08 –) Änderungen der Sach- und Rechtslage, die nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist eingetreten sind, noch nachträglich geltend gemacht werden können. Dr. med. K. bescheinigt, dass die Antragstellerin zu 2. körperlich sehr erschöpft sei, an Depressionen leide und er deshalb viel Ruhe und körperliche Schonung empfehle. Im Hinblick hierauf spricht nach Einschätzung des Senats sehr viel dafür, dass ein Umzug der Familie in die Türkei verbunden mit der Notwendigkeit, dort eine eigene Lebensgrundlage aufzubauen, während der Schwangerschaft eine sowohl das ungeborene Kind als auch die Gesundheit der Antragstellerin zu 2. gefährdende und damit gemessen an den Gewährleistungen von Art. 6 GG und auch von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unzumutbare Belastung darstellte. Kann der Antragstellerin zu 2. danach während ihrer Risikoschwangerschaft ein Umzug von der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei nicht angesonnen werden, so gilt gleiches hinsichtlich der Antragstellerin zu 3., für die es eine längere und dem Kindeswohl aller Voraussicht nach abträgliche Unterbrechung der seit ihrer Geburt gewachsenen Beziehungen zur Antragstellerin zu 2. bedeutete, müsste sie dem Antragsteller zu 1. in die Türkei folgen. Hieraus ergibt sich, dass der Antragsteller zu 1. die familiäre Lebensgemeinschaft mit den Antragstellerinnen zu 2. und 3. während der Zeit der Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2. nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklichen kann. Das leitet freilich über zu der Frage, ob diese Beziehungen bei den Gegebenheiten des vorliegenden Sachverhaltes überhaupt eine schützenswerte Qualität haben, da der Antragsteller zu 1. nach den Bekundungen der Antragstellerin zu 2. erst Mitte November 2009 illegal in die Bundesrepublik eingereist ist und eine familiäre Lebensgemeinschaft mit den Antragstellerinnen zu 2. und 3. letztlich nur deshalb herstellen konnte, weil er seiner anstehenden Inhaftierung durch die dann nicht eingehaltene Zusage entgangen ist, umgehend freiwillig aus dem Bundesgebiet auszureisen.

Gleichwohl muss hier gesehen werden, dass – zumal es auch in der Folgezeit zu keiner Inhaftierung des Antragstellers zu 1. gekommen ist – bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung im Beschwerdeverfahren die Antragsteller seit nunmehr etwas mehr als drei Monaten als Familie zusammenleben und von daher nicht von der Hand gewiesen werden kann, dass sich in dieser Zeit ein Vater-Tochter-Verhältnis zwischen dem Antragsteller zu 1. und der Antragstellerin zu 3. entwickelt hat, das namentlich, weil die Antragstellerin zu 3. noch sehr klein ist und ihr die bloß vorübergehende Natur einer Trennung allenfalls schwer zu vermitteln sein dürfte, mit Nachteilen für das Kindeswohl geschädigt würde, würde der Aufenthalt des Antragstellers zu 1. nunmehr zwangsweise beendet. Dass die Antragsteller es unterlassen haben, die Betreuungs- und Erziehungsleistungen des Antragstellers zu 1. für die Antragstellerin zu 3. im Einzelnen darzulegen und glaubhaft zu machen, steht dieser Würdigung nicht entgegen. Nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann auch in den Fällen eines Getrenntlebens von ausländischem Elternteil und Kind(ern) mit nur zeitweiligen Kontakten die Bedeutung des Betreuungsund Erziehungsbeitrages dieses Elternteiles nicht nach objektiv messbaren oder bestimmbaren Kriterien bewertet werden. Erst recht muss das in Fällen eines familiären Zusammenlebens mit seinen vielfältigen täglichen Interaktionen gelten. Letztlich kann freilich die Frage, ob und in welchem Ausmaß das Wohl der Antragstellerin zu 3. im Falle einer Trennung von dem Antragsteller zu 1. Schaden litte, abschließend nur unter Hinzuziehung entsprechender sachkundiger Beurteilung geklärt werden. Das aber muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Für das vorliegende Verfahren gilt, dass auf der Grundlage der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zumindest viel dafür spricht, dass in der inzwischen verstrichenen Zeitspanne von etwas mehr als drei Monaten des Zusammenlebens der Familie sich bei einem mangels gegenteiliger Anhaltspunkte hier zugrunde zu legenden normalen Gang der Dinge zwischen dem Antragsteller zu 1. und der Antragstellerin zu 3. Beziehungen entwickelt haben, deren Unterbrechung im Falle einer Trennung sich aller Voraussicht nach nachteilig auf das Kindeswohl auswirkte. Im Übrigen entspricht es der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Antragsteller nicht darauf verwiesen werden können, den Erziehungs- und Betreuungsbeitrag des Antragstellers zu 1. während einer Trennung durch die Antragstellerin zu 2. oder durch andere Familienangehörige – Großmutter, Onkeln und Tanten – zu substituieren.

Der Umstand, dass die Entwicklung dieser Beziehungen vorliegend letztlich durch "treuwidriges" Verhalten des Antragstellers zu 1. – Haftverschonung mit Blick auf die nicht eingehaltene Zusage, freiwillig auszureisen, - ermöglicht wurde, erlaubt ebenfalls keine andere Beurteilung, da für die Entscheidung maßgeblich das Wohl des Kindes in den Blick zu nehmen ist. Dass das familiäre Zusammenleben wegen der Risikoschwangerschaft der Antragstellerin zu 2. derzeit nicht in der Türkei fortgeführt werden kann, wurde bereits dargelegt.

Ebenso wie danach mit Blick auf das Verhältnis zwischen Antragsteller zu 1. und Antragstellerin zu 3., begründet die Risikoschwangerschaft der Antragstellerin zu 2. auch mit Blick auf das Verhältnis des Antragstellers zu 1. zu ihr aller Voraussicht nach eine Situation, die die zwangsweise Beendigung seines Aufenthaltes derzeit hindert. Nach dem bereits angeführten ärztlichen Attest von Dr. med. K. vom 28.1.2010 besteht bei der Antragstellerin zu 2. mit Blick auf eine 2006 erlittene Fehlgeburt eine Risikoschwangerschaft, die zudem dadurch belastet wird, dass sich die Antragstellerin zu 2. große Sorgen macht, ob sie die Schwangerschaft gesund austragen könne. Dr. K. führt ferner aus, die Antragstellerin zu 2. müsse für ihr Kleinkind, gemeint ist offenbar die Antragstellerin zu 3., sorgen; sie sei sehr erschöpft und leide an Depressionen. Dass in dieser Situation die Anwesenheit des Antragstellers zu 1. eine wesentliche Stütze bildet, liegt nahe. Nach Angaben der Antragsteller hilft der Antragsteller zu 1. der Antragstellerin zu 2. bei der Betreuung der Antragstellerin zu 3. sowie bei der Haushaltsführung – wie Wäsche waschen und Einkaufen -; zudem leistet er der Antragstellerin zu 2. psychischen Beistand. [...] Hiervon ausgehend deutet ferner vieles daraufhin, dass die zwangsweise Beendigung des Aufenthaltes des Antragstellers zu 1. eine wesentliche Verschärfung der bereits durch das Gefühl des Überfordertseins und durch Depressionen bestimmten Belastungssituation der Antragstellerin zu 2. mit möglichen gesundheitlichen Nachteilen für sie und das ungeborene Kind bedeutete. Der Senat hält daher im Hinblick hierauf ebenfalls das Bestehen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegen eines in der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung liegenden unzumutbaren Eingriffes in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG gegebenenfalls auch in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für überwiegend wahrscheinlich.

Allerdings geht der Senat nach dem Erkenntnisstand des vorliegenden Eilrechtsschutzverfahrens davon aus, dass diese Unzumutbarkeit hier durch die besondere Belastungssituation der Risikoschwangerschaft der Antragstellerin zu 2. begründet wird, die die Verweisung der Antragsteller auf die Fortsetzung des familiären Zusammenlebens in der Türkei derzeit hindert, dass aber – abgesehen von dieser Sondersituation – bislang keine Umstände dargetan geschweige denn glaubhaft gemacht sind, die dieser auch vom Verwaltungsgericht aufgezeigten Alternative entgegenstehen. Im Hinblick hierauf ist es nach Ansicht des Senats gerechtfertigt, die gebotene einstweilige Verpflichtung, von der zwangsweisen Beendigung des Aufenthaltes des Antragstellers zu 1. im Bundesgebiet abzusehen, hinsichtlich ihrer Dauer auf die Zeit der Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2. zuzüglich eines in Anlehnung an § 6 Abs. 1 Mutterschutzgesetz bestimmten Zeitraums von 8 Wochen nach der Geburt zu begrenzen. Da das Mutterschutzgesetz für den Regelfall annimmt, dass eine Mutter nach Ablauf von 8 Wochen nach der Geburt wieder einer Beschäftigung nachgehen kann, ist der Schluss erlaubt, dass nach Ablauf dieser Zeitspanne auch eine etwaige Verlagerung des Wohnsitzes der Antragsteller in die Türkei zumutbar ist. Hieraus ergibt sich die im Tenor ausgesprochene Verpflichtung des Antragsgegners. [...]