VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 03.03.2010 - 15 ZB 10.30005 - asyl.net: M16796
https://www.asyl.net/rsdb/M16796
Leitsatz:

Eine bloß routinemäßige Anhörung des Asylbewerbers zu den Gründen der Verfolgungsfurcht wird für sich genommen regelmäßig nicht als Selbsteintritt zu bewerten sein. Dass eine solche Anhörung im Einzelfall - auch einen konkludenten - Selbsteintritt bedeuten kann, ist jedoch nicht schlechthin ausgeschlossen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Anhörung, Selbsteintritt, Sachprüfung, Prüfung, informatorischer Charakter, Ermessensentscheidung, konkludenter Selbsteintritt
Normen: VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 25, VO 343/2003 Art. 2 Bst. e
Auszüge:

a) Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VO Dublin II kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den Kriterien der Verordnung nicht für die Prüfung zuständig ist. Prüfen in diesem Sinn meint gemäß Art. 2 Buchst e VO Dublin II die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge unter Einschluss der Entscheidung. Diese "Souveränitätsklausel" (vgl. Schröder ZAR 2003, 126) baut auf einer Ermessensentscheidung des jeweiligen Mitgliedstaates auf. Die Entscheidung setzt ein Verhalten des Mitgliedstaates voraus, das zweifelsfrei den Entschluss des Mitgliedstaates verdeutlicht, das Asylverfahren abweichend vom Regelfallsystem der Art. 5 ff. VO Dublin II in eigener Verantwortung durchzuführen. Dementsprechend heißt es in der Begründung der Kommission zu dem Vorschlag für die Verordnung (KOM(2001) 447 endg. ABL 2002 C 051 S. 325 ff.): "Hat ein Mitgliedstaat beschlossen, die Prüfung vorzunehmen, wird er im Sinne der Verordnung der zuständige Staat ...". Die Begründung nennt anknüpfend an die vorangegangene Regelung in Art. 9 des Dubliner Übereinkommens (ABl. 1997 C 254 S. 1) beispielhaft politische, humanitäre oder praktische Erwägungen als diejenigen Gründe, die einen Mitgliedstaat veranlassen können, sich zur Prüfung in dem bereits genannten umfassenden Sinn des Art. 2 Buchst e VO Dublin II bereit zu erklären.

b) Ob eine Anhörung des Asylbewerbers zu den Gründen der Verfolgungsfurcht hinreichend zweifelsfrei die Ausübung des Selbsteintrittsrechts zum Ausdruck bringt, lässt sich nicht grundsätzlich klären, hängt vielmehr von den Umständen des Einzelfalls ab. Es ist nicht schlechthin ausgeschlossen, dass eine solche Anhörung des Asylbewerbers je nach den sie begleitenden Umständen bereits ausreichend deutlich macht, das Selbsteintrittsrecht solle wahrgenommen werden. Auch eine "konkludente" Ausübung des Rechts ist denkbar (vgl. Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, RdNr. 220 zu § 27 a). Dabei darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass der Selbsteintritt keine dem Asylbewerber gegenüber abzugebende Erklärung und das "Verhalten" des Bundesamts folglich auch nicht aus dessen Horizont heraus zu beurteilen ist.

Eine bloß routinemäßige, an die Befragung zu Herkunft und Modalitäten der Einreise sowie die Erforschung des Reisewegs sich nahtlos unmittelbar anschließende Anhörung des Asylbewerbers zu den Gründen der Verfolgungsfurcht wird für sich genommen regelmäßig nicht hinreichend zum Ausdruck bringen, die Bundesrepublik Deutschland habe bereits den Entschluss gefasst, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, das Asylverfahren abweichend vom Regelfall in seiner "Gesamtheit" in eigener Verantwortung durchzuführen (in diesem Sinn auch VG Saarland vom 24.9.2008, Az. 2 K 94/08 unter Bezugnahme auf VG Trier, VG Karlsruhe und VG Bremen; VG München vom 25.5.2009, Az. M 4 S 09.60039; VG Ansbach vom 13.1.2009, Az. 3 K 08.30017; VG Münster vom 4.3.2009, Az. 9 L 77/09.A; vgl. ferner Hailbronner, Ausländerrecht, RdNr. 22 zu § 29 AsylVfG; Funke-Kaiser, a.a.O.). So ist es zumal dann, wenn das Bundesamt den Vorgang im Anschluss an die Anhörung nicht sachlich weiter bearbeitet, sondern unmittelbar intern zur Bestimmung des nach der VO Dublin II zuständigen Mitgliedstaates weiterleitet. Auch die Verfolgungsgründe können je nach Lage der Dinge die Ermessensentscheidung nach Art. 3 Abs. 2 VO Dublin II überhaupt erst ermöglichen oder zumindest beeinflussen. Mehr als informatorischen Charakter hat die Anhörung zu den Verfolgungsgründen dann nicht.