VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 22.03.2007 - 1 K 06.30353 - asyl.net: M16800
https://www.asyl.net/rsdb/M16800
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG für ein Kleinkind wegen Kumulation von Risikofaktoren.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Demokratische Republik Kongo, Existenzgrundlage, extreme Gefahrenlage, Infektionskrankheiten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die dargestellten, von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen einer verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG liegen im vorliegenden Fall auf Grund der Lebensbedingungen in der Demokratischen Republik Kongo in Verbindung mit dem Alter der Klägerin vor.

In der Hauptstadt Kinshasa, dem einzig möglichen Zielort einer Abschiebung, besteht keine Bürgerkriegssituation, in der nahezu jede Person Gefahr laufen würde, Opfer eines Übergriffs zu werden.

Es lässt sich auch nicht feststellen, dass die Klägerin im Großraum Kinshasa mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert wäre. Es ist nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen zwar nicht zweifelhaft, dass - bezogen auf das gesamte Staatsgebiet der Demokratischen Republik Kongo - die wirtschaftliche Lage verheerend ist. Die seit August 1998 andauernden Kämpfe haben nach und nach die gesamte Infrastruktur des zentralafrikanischen Landes zerstört. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 90 %. Auch innerhalb der Großfamilie, in der traditionell gegenseitig Hilfe geleistet wird, gelingt es nicht immer, Härten durch wechselseitige Unterstützung aufzufangen. Vor allem Frauen und Kinder tragen mit Kleinsthandel zum Familienunterhalt bei (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5.9.2006, Nr. IV.1 a). Für die Region Kinshasa kann aber festgestellt werden, dass sich die Versorgungslage zwischenzeitlich deutlich gebessert hat. [...]

Nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnisse lässt sich daher zusammenfassend feststellen, dass die allgemein beschriebene katastrophale Versorgungslage in erster Linie die Rebellengebiet und insbesondere die östlichen Landesteile, nicht aber in gleicher Weise den Großraum Kinshasa betrifft. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass ein abgeschobener Asylbewerber im Großraum Kinshasa mangels jeglicher Lebensgrundlage in eine extreme Gefahrenlage geriete und dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert wäre. Ausgehend von oben genannten Erkenntnissen fehlt die Grundlage für die Prognose, gerade die Klägerin werde mit hoher Wahrscheinlichkeit mangels jeglicher Lebensgrundlage bald nach der Rückkehr an Hunger sterben. Die Klägerin wird realistischerweise nicht allein, sondern allenfalls gemeinsam mit ihrer Familie nach Kinshasa zurückkehren. Hinzu kommt, dass die Familie der Klägerin sich nach ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet finanziell besser stellt als der Durchschnitt der Bevölkerung in Kinshasa.

Das Gesundheitswesen in der Demokratischen Republik Kongo befindet sich in einem äußerst schlechten Zustand. [...] Der Großteil der Bevölkerung kann nicht hinreichend medizinisch versorgt werden (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5.9.2006, Nr. IV.1 b). [...]

Aus den vorstehenden Ausführungen wird deutlich, dass sich das Gesundheitswesen in der Demokratischen Republik Kongo allgemein in einem sehr schlechten Zustand befindet. Den vorliegenden Erkenntnisquellen ist aber nicht zu entnehmen, dass in der Demokratischen Republik Kongo Seuchen oder Epidemien in einem solchen Maße verbreitet sind, dass jeder Rückkehrer dort alsbald nach seiner Rückkehr lebensgefährlich erkranken würde.

Es besteht, für sich betrachtet, für die Klägerin auch keine extreme Gefahrenlage hinsichtlich des Risikos, bei einer Rückkehr an Malaria zu erkranken und zu sterben. Das Risiko, in der Demokratischen Republik Kongo an Malaria zu erkranken, ist allgemein sehr hoch (vgl. Gutachten des Universitätsklinikums Heidelberg, Abteilung Tropenhygiene und öffentliches Gesundheitswesen, Bereich Klinische Tropenmedizin, Dr. Junghanss vom 9.2.2001 an den VGH Baden-Württemberg, S. 5). Dieses Risiko wird bei einem längeren Auslandsaufenthalt in Gebieten, in denen Malaria nicht vorkommt, durch Verlust bzw. Minderung der vormals erworbenen Semi-Immunität gegen Malaria bzw. bei Personen, die in einem Nicht-Malariagebiet geboren und aufgewachsen sind, durch eine von vornherein fehlende Semi-Immunität gegen Malaria noch erhöht. [...] Bei rechtzeitiger Diagnostik und Behandlung tendiert die Sterblichkeitsrate gegen Null (vgl. Gutachten des Bernhard-Nocht-Instituts vom 2.4.2002, S. 3). Gegen Malaria wird in der Demokratischen Republik Kongo Fansidar und Chinin eingesetzt. Auch für Patienten mit Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-6-Mangel sind geeignete Malariamedikamente erhältlich (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5.9.2006, Nr. IV.1 b). Bei nicht Semiimmunerkrankten ist eine frühe Diagnose und rechtzeitig einsetzende Behandlung durch wirksame Medikamente erforderlich. In der Regel wird dieses erkannt und beachtet (vgl. Gutachten des Bernhard-Nocht-Instituts vom 2.4.2002, S. 3). Insofern ist es der Klägerin bzw. ihren Eltern zuzumuten, nach einer Rückkehr bei Anzeichen für eine Malariaerkrankung unverzüglich eine Behandlung einzuleiten und darauf hinzuweisen, dass kein Semi-Immunschutz vorhanden ist. Allerdings müssen die Kosten der Medikamente im Regelfall voll von den Betroffenen getragen werden. Ein Päckchen im Wert von 1,-- € reicht für einen Erwachsenen für einen Zeitraum von drei Monaten. Ein Moskitonetz kostet 2,-- € bis 5,~ €. Es gibt in Kinshasa ein Programm, in dem man die Moskitonetze imprägnieren lassen kann. Zu diesem Programm hat jeder Zugang, der sich dorthin begibt, für die Imprägnierung entstehen nochmals Kosten von 2,-- bis 3,- € (vgl. Verhandlungsniederschrift über mündliches Gutachten Dr. Ochel in der mündlichen Verhandlung beim VG Frankfurt am Main am 27.6.2002, S. 20). Hierauf kann die Familie der Klägerin, die sich längere Zeit im Bundesgebiet aufgehalten hat und bei einer Rückkehr finanziell besser gestellt sein dürfte als der Durchschnitt der Bevölkerung im Kongo, verwiesen werden.

Neben dem hohen Erkrankungs- und Sterberisiko bei einer Malariaerkrankung ist im vorliegenden Fall bei der neun Monate alten Klägerin aber zusätzlich noch zu berücksichtigen, dass die Haupttodesursache in den ersten Lebensjahren bei Kindern Atemwegs- und Durchfallerkrankungen sind (vgl. Verhandlungsniederschrift über mündliches Gutachten Dr. Ochel vom 27.6.2002, S. 17). Kinder bis zum Alter von fünf Jahren machen in der Demokratischen Republik Kongo ungefähr 20 lebensbedrohliche Durchfallinfektionen durch (vgl. Gutachten Dr. Ochel, S. 13). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Krankheitsverlauf im Falle einer Infektion in den ersten fünf Lebensjahren komplizierter als bei älteren Kindern oder Erwachsenen ist (vgl. Gutachten Dr. Ochel, S. 13). Hinzu kommt, dass in Kinshasa höchstens 60 % der Bevölkerung mit Wasser versorgt werden kann, das in etwa Trinkwasserqualität aufweist (vgl. Gutachten Dr. Ochel, S. 14; Auskunft des Auswärtigen Amtes an OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.4.2005). Im Stadtteil , in dem die Eltern der Klägerin vor dem Umzug nach gelebt hatten und die Eltern des Vaters der Klägerin leben, sind 75 % der Haushalte nicht an die zentrale Trinkwasserversorgung angeschlossen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 14.4.2005 an OVG Nordrhein-Westfalen), so dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Kinshasa keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hat und daher verstärkt Krankheitserregern ausgesetzt ist. Darüber hinaus sind Kinder in Wohngebieten, in denen es keine Kanalisation gibt, besonders gefährdet, da die Menschen dort eine Latrine aufsuchen müssen, wo sie sich regelmäßig mit Durchfallerregern anstecken (vgl. Gutachten Dr. Ochel, S. 13). Episoden von Durchfallerkrankungen sind im Kindesalter besonders häufig und bedrohen die Kinder stark, weil sie stark austrocknen (vgl. Gutachten Dr. Ochel, S. 13). Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Klägerin in ein Wohnviertel, in dem es keine Kanalisation gibt, zurückkehren muss, ist sehr hoch, da lediglich 10 % der Haushalte in Kinshasa an eine Abwasserkanalisation angeschlossen sind (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 14.4.2005 an OVG Nordrhein-Westfalen). Bei Magen-/Darminfektionen besteht dabei für die in Deutschland geborene Klägerin zudem ein nochmals erhöhtes Risiko, da sie sich erst an die Keimflora im Kongo gewöhnen muss und insofern ein zusätzlich erhöhtes Risikos gegenüber der einheimischen Bevölkerung trägt (vgl. Gutachten Dr. Ochel, S. 17).

Selbst wenn die oben dargelegten einzelnen Risikofaktoren für sich betrachtet noch nicht die Annahme einer extremen Gefahrenlage für die Klägerin rechtfertigen, ergibt sich eine solche für die Klägerin jedoch aus der im vorliegenden Fall gerade auch durch das Alter der Klägerin bedingten Erhöhung der Einzelrisiken einerseits und die Kumulation mehrerer zusammentreffender, erhöhter Risikofaktoren andererseits (vgl. VG Augsburg vom 20.12.2004 Az. Au 1 K 03.30478; VG Augsburg vom 17.5.2005 Az. Au 1 K 04.30864; VG Augsburg vom 11.4.2006 Az. Au 1 K 06.30043). [...]