OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.03.2010 - 3 M 39.09 - asyl.net: M16809
https://www.asyl.net/rsdb/M16809
Leitsatz:

Kein Visum zum Kindernachzug aus Nigeria nach § 32 Abs. 3 AufenthG, da der Kläger nach Recherchen des Vertrauensanwalts der Deutschen Botschaft Lagos und des Adoleszenzgutachtens (Röntgenaufnahme der linken Hand) bei Stellung des Visumsantrags bereits 16 Jahre alt war.

Schlagwörter: Kindernachzug, Nigeria, Visumsverfahren, Altersfeststellung, Auswärtiges Amt, Vertrauensanwalt, Handwurzeluntersuchung
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die Nachzugsvoraussetzungen nach § 32 Abs. 3 AufenthG sind bei summarischer Prüfung nicht erfüllt, weil der Sohn des Klägers (J.) mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits das 16. Lebensjahr vollendet hatte, als er am 23. Mai 2006 den Visumantrag stellte. Die von der Deutschen Botschaft in Lagos veranlassten Ermittlungen eines Vertrauensanwalts führten zu dem Ergebnis, dass J. bei regulärem Verlauf die ihm unter dem 19. Mai 2006 bescheinigte Schulstufe Senior Secondary Class II nicht hätte erreicht haben können, wenn das behauptete und u.a. in seinem im Oktober 2005 ausgestellten nigerianischen Pass mit dem 6. Januar 1992 angegebene Geburtsdatum zutreffen sollte. Es kommt hinzu, dass J. in dem 2005 erstellten Register der Senior Secondary Class II der von ihm besuchten Schule mit dem Geburtsdatum 6. Januar 1990 aufgeführt ist. Zwar wendet der Kläger hiergegen ein, dass er seinen Sohn nicht regulär mit mindestens fünf Jahren, sondern bereits im Alter von vier Jahren und neun Monaten habe einschulen lassen, und dass der Eintrag im Schulregister auf einen Schreib- oder Übertragungsfehler der seinerzeit verantwortlichen Sachbearbeiterin des Schulregisters (nach den Angaben des Sohnes des Klägers und seiner Schwester gegenüber dem Vertrauensanwalt am 8. Oktober 2007 [Verwaltungsvorgang Bl. 150] auf eine fehlerhafte Angabe ihres Onkels) zurückzuführen sei. Diese Behauptungen sind indes weder belegt noch auch nur glaubhaft gemacht. Aufgrund ihres Ausnahmecharakters können die behaupteten Tatsachen auch nicht aus sich heraus als wahrscheinlich angesehen werden. Vor allem aber erscheint es aufgrund des Ergebnisses des vom Beklagten eingeholten rechtsmedizinischen Gutachtens vom 7. April 2008 (Adoleszenzgutachten) in hohem Maße unwahrscheinlich, dass das vom Kläger behauptete Geburtsdatum zutrifft. Die Sachverständige Prof. Dr. P. gelangt in diesem Gutachten in Auswertung einer am 4. März 2008 gefertigten Röntgenaufnahme J. linker Hand zu einem Skelettalter von 18,0 Jahren. Mit diesem Skelettalter sei die Handskelettentwicklung abgeschlossen, so dass dieses Alter als Mindestalter zu verstehen sei. Einem Skelettalter von 18,0 Jahren entspreche ein chronologisches Alter von 18,2 Jahren, wobei die Standardabweichung 0,7 Jahre betrage. Das bedeute, dass 68 % der Probanden der Referenzpopulation, die ein Skelettalter von 18,0 Jahren aufwiesen, mindestens 17,5 Jahre alt, 95 % der Probanden mindestens 16,8 Jahre alt und 99,7 % der Probanden mindestens 16,1 Jahre alt seien. Wäre J., wie in dem Schulregister vermerkt und vom Beklagten angenommen, am 6. Januar 1990 geboren worden, hätte er bei Fertigung der Röntgenaufnahme am 4. März 2008 nahezu exakt das von der Sachverständigen ermittelte chronologischer Alter von 18,2 Jahren erreicht gehabt. Unter Zugrundelegung des Geburtsdatums 6. Januar 1990 hatte J. bei Stellung des Visumantrags am 23. Mai 2006 das 16. Lebensjahr um gut vier Monate überschritten. Zwar wäre aufgrund der Untersuchung der Röntgenaufnahme der Hand nach den oben genannten Ausführungen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 68 % anzunehmen, dass er jedenfalls das 16. Lebensjahr überschritten hatte. Jedoch behauptet der Kläger selbst nicht, dass J. bei Stellung des Visumantrags lediglich knapp unter 16 Jahre alt gewesen sei. Vielmehr ergäbe sich aus dem von ihm behaupteten Geburtsdatum 6. Januar 1992 zum Zeitpunkt des Visumantrags ein Alter von 14 Jahren und gut vier Monaten. Legte man dieses Geburtsdatum zu Grunde, so wäre J. bei Fertigung der Röntgenaufnahme ca. 16 Jahre und zwei Monate alt gewesen. Ein solches - vom Kläger einzig behauptetes - Alter ist nach dem Ergebnis des Gutachtens jedoch mit einer Wahrscheinlichkeit von über 95 % auszuschließen. Dementsprechend hat auch die Sachverständige die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das vom Kläger mitgeteilte Alter zutrifft, in der Zusammenfassung ihres Gutachtens als gering eingeschätzt. Aufgrund dessen streitet eine entsprechend große Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine ergänzende Begutachtung einer - noch zu fertigenden - Röntgenaufnahme des Gebisses des Sohnes des Klägers ebenfalls nicht das von ihm behauptete Geburtsdatum beweisen würde (vgl. BVerfG, a.a.O.). Soweit der Kläger einwendet, dass hinsichtlich der dargelegten Probanden Ausführungen zur Nachvollziehbarkeit fehlten, wann, zu welchem Zeitpunkt und welche Probanden im Rahmen der Referenzpopulation berücksichtigt worden seien, ist darauf hinzuweisen, dass nach den Ausführungen des Gutachtens die definierten Stadien der Skelettreifung von allen ethnischen Hauptgruppen in derselben gesetzmäßigen Reihenfolge durchlaufen würden. Populationsunterschiede in der Skelettreifungsgeschwindigkeit seien offenbar in erster Linie durch den sozioökonomischen Status der untersuchten Population bedingt, wobei ein vergleichsweise geringer sozioökonomischer Status zu einer Entwicklungsverzögerung führe. Daher führe die Anwendung der benutzten Referenzstudie auf Angehörige sozioökonomischen geringer entwickelter Populationen zu einer Unterschätzung des chronologischen Alters. [...]