OVG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 26.03.2010 - 2 A 208/07.A - asyl.net: M16822
https://www.asyl.net/rsdb/M16822
Leitsatz:

1. Wenn ein um Flüchtlingsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG Nachsuchender bei seiner Ausreise aus dem Heimatland von einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung betroffen war, ist die Gefahr einer erneuten Verfolgung bei Rückkehr in das Heimatland stets nach dem sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu prüfen.

2. Die Frage, ob der Verfolgungstypus der sog. örtlich begrenzten Gruppenverfolgung infolge der sog. Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG) überhaupt bedeutungslos geworden ist, insbesondere, ob für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung unverfolgt Ausgereister die Differenzierung zwischen örtlich begrenzter und regionaler Gruppenverfolgung weiterhin Bedeutung hat, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Tschetschenien, Tschetschenen, Russische Föderation, Gruppenverfolgung, Regionale Gruppenverfolgung, Qualifikationsrichtlinie, Divergenzrüge, Flüchtlingsanerkennung, interne Fluchtalternative, örtlich begrenzte Gruppenverfolgung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylVfG § 78 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

In Bezug auf den ersten vom Beteiligten formulierten Rechtssatz hat das Bundesverwaltungsgericht zwar in seiner vom Beteiligten in Bezug genommenen Entscheidung (Beschluss v. 04.01.2007 - 1 B 47.06 -, NVwZ 2007, 591) auf die Unterschiede zwischen "regionaler" und "örtlich begrenzter" Gruppenverfolgung hingewiesen. Bei Annahme einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung sei Rückkehrern aus dem Ausland grundsätzlich die Rückkehr in andere Gebiete des Heimatstaats ohne weitere asylrechtliche Prüfung einer inländischen Fluchtalternative zuzumuten. Nur wenn zum Zeitpunkt der Ausreise keine interne Fluchtalternative offen gestanden habe, sei die Gefahr erneuter Verfolgung bei Rückkehr nach dem sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu prüfen.

Für das Vorliegen eines Zulassungsgrundes ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag maßgebend (vgl. Himstedt in: Handkommentar Verwaltungsrecht, VwGO § 124 VwGO Rn. 79). Zu diesem Zeitpunkt liegt eine Divergenz nicht - mehr - vor.

Inzwischen ist das Bundesverwaltungsgericht von seinem noch im o.a. Beschluss v. 04.01.2007 dargelegten Rechtsstandpunkt abgerückt, soweit es um die Annahme einer Vorverfolgung im Rahmen der Prüfung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG geht. Im Urteil vom 19.01.2009 (Az. 10 C 52.07, BVerwGE 133, 55-67 = NVwZ 2009, 982), dem der Fall einer um Flüchtlingsanerkennung nachsuchenden Klägerin aus Tschetschenien zugrunde lag, führt das Gericht in diesem Zusammenhang aus (Rz. 29 des Urteils):

"Im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung nach der Qualifikationsrichtlinie kann entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs eine Vorverfolgung nicht mehr wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden (ebenso im Ergebnis u.a. VGH Kassel, Urteil vom 21. Februar 2008 - 3 UE 191/07.A - NVwZ-RR 2008, 828; Hailbronner, Ausländerrecht, § 60 Rn. 97; Marx, Handbuch der Flüchtlingsanerkennung § 14 Rn. 62)."

Die Frage ob der Anwendung der Beweiserleichterung für Vorverfolgte eine zum Zeitpunkt der Ausreise bestehende interne Flucht- oder Schutzalternative entgegensteht sei "… anhand von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zu beurteilen. Nach dieser Bestimmung ist - soweit es um die Flüchtlingsanerkennung geht - die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich, dass einem Antragsteller, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, die Beweiserleichterung nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie unabhängig davon zugute kommen soll, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise auch in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können. Die Beweiserleichterung in Form einer widerlegbaren Vermutung knüpft nämlich nur an den Umstand einer erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung, nicht aber an weitere Voraussetzungen - wie etwa Schutzmöglichkeiten in anderen Landesteilen - an. Die Vorschrift soll erkennbar beweisrechtlich diejenigen privilegieren, die in ihrem Heimatland tatsächlich bereits persönlich Verfolgung erfahren haben, weil sie diese entweder selbst erlitten haben oder von ihr unmittelbar bedroht waren. Dem Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes soll dagegen durch eine Verweisung auf eine zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung bestehende interne Schutzalternative Rechnung getragen werden (vgl. Art 8 Abs. 2 der Richtlinie). (…) Der Senat hält aus diesen Gründen für das Flüchtlingsrecht - anders als für das Asylrecht nach Art. 16a GG - nicht mehr an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach der in einem Teil des Heimatlandes Verfolgte oder von Verfolgung Bedrohte, der zum Zeitpunkt seiner Ausreise in anderen Landesteilen den erforderlichen Schutz hätte finden können, nicht als vorverfolgt angesehen werden kann. Insofern ist der Begriff der Vorverfolgung im Sinne der Richtlinie anders zu verstehen als im Rahmen des Asylrechts nach Art. 16a GG, wonach eine landesweit ausweglose Lage des Asylbewerbers im Zeitpunkt der Ausreise erforderlich ist."

Diese Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht inzwischen in einem Urteil vom 24.11.2009 (Az. 10 C 24.08, juris) bestätigt, in welchem es unter Rz. 18 in den Entscheidungsgründen ausführt:

"Eine Vorverfolgung kann nicht mehr wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden (Urteil vom 19. Januar 2009 - BVerwG 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 Rn. 29). Mit anderen Worten greift im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung die Beweiserleichterung auch dann, wenn im Zeitpunkt der Ausreise keine landesweit ausweglose Lage bestand."

Den vom Bundesverwaltungsgericht in seinen o.a. Entscheidungen vom 19.01.2009 und 24.11.2009 aufgezeigten dogmatischen Lösungsansatz verfolgt auch das Verwaltungsgericht, wenn es in seinem Urteil vom 07.05.2007 unter Punkt 3.1.1. der Entscheidungsgründe ausführt, nach Art. 8 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie komme es für das Bestehen einer internen Schutzalternative auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag an; unerheblich sei hiernach, ob der Schutzsuchende einer bei der Ausreise eingetretenen oder unmittelbar bevorstehenden Verfolgung durch Flucht an einen anderen Ort in seinem Heimatland hätte ausweichen können.

Eine Divergenz des Urteils des Verwaltungsgerichts zur aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist insoweit deshalb nicht erkennbar. Dies hat der Beteiligte in seinem Schriftsatz vom 27.05.2009 inzwischen selbst sinngemäß eingeräumt. [...]

Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil die Kläger nach Maßgabe der aufgrund der sog. Qualifikationsrichtlinie geänderten Rechtslage, weil in Tschetschenien von einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung betroffen, als vorverfolgt angesehen. Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall von den Fällen, die den vom Beteiligten angesprochenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde lagen. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts war die Gefahr erneuter Verfolgung bei Rückkehr in das Heimatland im Fall der Kläger nach dem sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu prüfen. Einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zur örtlich begrenzten und regionalen Gruppenverfolgung bedurfte es bei der Beurteilung der Rückkehrgefährdung in ihrem Fall nicht. [...]

Die Frage, ob der Verfolgungstypus der sog. örtlichen begrenzten Gruppenverfolgung infolge der RL 2004/83/EG überhaupt bedeutungslos geworden ist, bedarf im vorliegenden Fall keiner abschließenden Klärung. Ob für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung unverfolgt Ausgereister die Differenzierung zwischen örtlich begrenzter und regionaler Gruppenverfolgung weiterhin Bedeutung hat, bedarf – wie dargelegt – im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. [...]