VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 06.04.2010 - 15 K 3268/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 169 ff.] - asyl.net: M16845
https://www.asyl.net/rsdb/M16845
Leitsatz:

Zur Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte nach § 36 Abs. 2 AufenthG für die Mutter volljähriger Kinder. Mit Ausführungen zum Familienbegriff nach Art. 8 EMRK und Ausnahmen von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, außergewöhnliche Härte, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, atypischer Ausnahmefall, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2 S. 2, GG Art. 6 EMRK Art. 8, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

[...]

§ 36 Abs. 2 AufenthG ist auf die Situation der Klägerin anwendbar. Die Auffangbestimmung des § 36 Abs. 2 AufenthG kommt in Abgrenzung zu den abschließenden Nachzugsvoraussetzungen der §§ 28 - 33 AufenthG insbesondere dann in Betracht, wenn - wie hier - Eltern den Nachzug zu ihren ausländischen volljährigen Kindern begehren (so insbesondere die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum AufenthG, BR-Drs. 669/09, Abschnitt 36.2.1.3), da diese Konstellation keiner anderen Regelung unterfällt. In gleicher Weise kann die Vorschrift zur Anwendung kommen, wenn das ausländische Kind des Ausländers noch minderjährig ist, aber die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AufenthG nicht gegeben sind (vgl. die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum AufenthG a.a.O.). Dies traf auf die Situation der Klägerin zu, bevor ihr Sohn während des laufenden Verwaltungsverfahrens volljährig wurde. [...]

Eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG wird generell dann angenommen, wenn der Familienangehörige allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung von familiärer Lebenshilfe angewiesen ist und diese Hilfe zumutbar nur im Bundesgebiet erbracht werden kann (vgl. zuletzt z.B. VGH München, Beschluss vom 16.12.2009, 10 GS 09.2134, Juris Rn. 14). Dieses Angewiesensein auf die Lebenshilfe eines Familienmitglieds ist allerdings nicht am Maßstab des nackten Überlebens zu messen. Vielmehr ist Maßstab zum einen die Menschenwürde des auf Hilfe angewiesenen Mitgliedes, zum anderen aber auch der besondere Schutz familiärer Beziehungen. Eine solche Aufenthaltserlaubnis ist deshalb schon dann in Betracht zu ziehen, wenn gewichtige Umstände vorliegen, die unter Berücksichtigung des Schutzgebotes des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK sowie im Vergleich zu den übrigen geregelten Fällen des Familiennachzugs ausnahmsweise ihre Erteilung gebieten (vgl. Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Auflage 2008, Rn. 829). Solche sind dann anzunehmen, wenn im Fall der Versagung des Nachzugs die Interessen des im Bundesgebiet lebenden Ausländers oder des nachzugswilligen sonstigen Familienangehörigen mindestens genauso stark berührt wären, wie dies im Fall von Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern der Fall sein würde (Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum AufenthG, BR-Drs. 669/09, Abschnitt 36.2.2.1). Maßgeblich sind insoweit die individuellen Besonderheiten des Einzelfalls.

Speziell im Falle von jungen volljährigen ausländischen Kindern nachzugswilliger Ausländer kommt eine außergewöhnliche Härte dann in Betracht, wenn sie trotz Erreichens der Volljährigkeitsgrenze noch in vergleichbarer Weise auf den Beistand eines oder beider Elternteile angewiesen sind wie Minderjährige.

Zu Recht weist der Klägervertreter darauf hin, dass insbesondere der Familienbegriff des Art. 8 EMRK die klassische Kleinfamilie überschreitet und Beziehungen zwischen Eltern und ihren bereits erwachsenen Kindern erfasst, wenn besondere zusätzliche Aspekte der Abhängigkeit hinzutreten, die weiter reichen als normale gefühlsmäßige Bindungen (vgl. m.w.N. VGH Mannheim, Beschluss vom 5. Februar 2009, 11 S 3244/08, NVwZ-RR 2009, 617 ff, , Juris Rn. 16; vgl. insbesondere EGMR, Urteil vom 23.6.2008, 1638/03, InfAuslR 2008, 333 ff. [333] - Mazlov II -; EGMR, Urteil vom 17.4.2003, 52853/99, NJW 2004, 2147 ff. [2148], Rn. 44 - Yilmaz - ). Ein solches kann z.B. dann der Fall sein, wenn eine deutliche Entwicklungsverzögerung vorliegt, die es ausschließt, dass ein junger Erwachsener bereits beim Überschreiten der Volljährigkeitsgrenze auch den Reifegrad eines Volljährigen erreicht hat, oder wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen eines Kindes eine längere Betreuung durch seine Eltern verlangen. Regelmäßig wird allerdings auch in diesen Fällen nach einiger Zeit ein Stand erreicht werden können, der die Loslösung der erwachsenen Kinder vom Elternhaus möglich macht. Lediglich bei sehr schweren Erkrankungen, die einer solchen Verselbstständigung entgegenstehen und einen fortwährenden Pflegebedarf begründen, kann eine fortgesetzte Pflege und Betreuung durch die Eltern notwendig werden.

Im Bezug auf den Sohn der Klägerin ist festzustellen, dass dieser auch nach Erreichen der Volljährigkeit im November 2009 noch der weiteren elterlichen Betreuung durch seine Mutter bedarf. Dies belegen sowohl die ärztliche Bescheinigung des Dr. ... vom 24. April 2009 als auch die mehrfachen Atteste des Epilepsiezentrums Hamburg und die Stellungnahmen des zuständigen Jugendamtes, das zuletzt einen Betreuungsbedarf bis zum Erreichen des 21. Lebensjahres der Kinder der Klägerin befürwortet hat. [...]

Aufgrund der sowohl vom Jugendamt wie auch von den behandelnden Ärzten festgestellten Entwicklungsverzögerung und seines besonderen entwicklungs- und krankheitsbezogenen Bedarfs an sozialer und familiärer Stabilität und an familiärem Beistand wäre eine Trennung von Mutter und Sohn zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu verantworten. Insoweit geht es nicht allein darum, dass sichergestellt wird, dass der Sohn der Klägerin seine Medikamente rechtzeitig und in richtiger Menge nimmt. Vielmehr muss ihm Gelegenheit gegeben werden, sich aus einer behüteten und Sicherheit gebenden Atmosphäre heraus weiter zu stabilisieren und erwachsen zu werden, in einer Ausbildung Fuß zu fassen und mit seiner Krankheit auch alleine souverän umgehen zu lernen. Die dritte abrupte und unfreiwillige Trennung von einem Elternteil, auf das er noch angewiesen ist, würde ihn voraussichtlich weiter destabilisieren und hierdurch eine seinen Möglichkeiten entsprechende weitere Entwicklung stark behindern.

Dem Sohn der Klägerin ist auch nicht zuzumuten, jetzt mit dieser zusammen nach Serbien zurückzukehren. Denn er hat mittlerweile sein gesamtes schulisches Leben in Deutschland verbracht. Hamburg ist seine Heimat geworden und hier hat er seine sozialen Bezugspunkte. Zwar kennt er Serbien aus Besuchen bei der Mutter und deren Familie. Mit dem dortigen Leben außerhalb von Verwandtenbesuchen ist er indes nicht vertraut. Er hat sich in Deutschland integriert, hat hier einen anerkannten Schulabschluss erworben und dürfte, wenn ihm hierbei nicht noch Steine in den Weg gelegt werden, im Stande sein, eine Ausbildung zu absolvieren und hiernach einen auskömmlichen Beruf auszuüben. Zwar hat der Sohn der Klägerin derzeit noch keine Niederlassungserlaubnis erhalten. Eine solche ist in seinem Fall jedoch zu erwarten, wenn er den Besuch einer anerkannten Ausbildungsstätte nachweisen kann. Es dürfte auch manches dafür sprechen, dass er aufgrund der Verwurzelung in Deutschland dem besonderen Schutz des Art. 8 EMRK unterfällt.

2. Einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des § 36 Abs. 2 AufenthG stehen auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen für familiär begründete Aufenthaltserlaubnisse nicht entgegen.

a. So ist zu erwarten, dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt aus eigener Arbeit sichern kann, sobald ihr dieses rechtlich gestattet ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Zwar ist sie bisher noch auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen. Sie ist aber arbeitsbereit und arbeitsfähig, soll sehr gut deutsch sprechen und hat auch bereits mehrere Arbeitsangebote vorgelegt, die sie lediglich deshalb nicht wahrnehmen durfte, weil sie nicht zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Deutschland befugt war. Die hier notwendige Prognose, dass die Klägerin nicht weiterhin von Sozialleistungen abhängig sein wird, ist deshalb für sie durchaus günstig. Im Übrigen besteht dieses Erfordernis nur für den Regelfall. [...]

b. Auch steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht zwingend entgegen, dass die Klägerin illegal nach Deutschland eingereist ist (§ 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG). Denn von diesem Ausschlussgrund kann nach § 5 Abs. 2 S. 2 abgesehen werden, wenn es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht zumutbar ist, das Visumsverfahren nachzuholen.

Als im Jahr 2008 der Vater ihrer Kinder Deutschland fluchtartig verlassen hatte, war die Klägerin ohne das hierfür erforderliche Visum nach Deutschland zurückgekehrt, um sich um die Familie kümmern zu können. Ein solches ist zwar kein rechtmäßiges Verhalten, weist aber angesichts der besonderen Notsituation der Kinder keinen besonders schwerwiegenden Unrechtsgehalt auf, da eine legale Einreise erhebliche Zeit beansprucht hätte, während deren die Kinder auf sich gestellt gewesen wären. Da insbesondere ihr Sohn aktuell auf ihre Anwesenheit angewiesen ist, ist für sie auch nicht in Betracht zu ziehen, Deutschland jetzt zum Zwecke der legalen Wiedereinreise für einen vorübergehenden Zeitraum zu verlassen. Denn auch ein solches wird voraussichtlich geraume Zeit beanspruchen. Da der seit langem in Deutschland lebende Sohn gerade jetzt noch die kontinuierliche Anwesenheit eines Elternteils braucht - auf die er hoffentlich in einiger Zeit nicht mehr angewiesen sein wird - wäre es kontraproduktiv, die Klägerin nun in das Ausland zu schicken, um ein ordnungsgemäßes Visumsverfahren durchzuführen und hiernach zu einem Zeitpunkt zurückkehren zu lassen, an dem der der Sohn die Betreuung möglicherweise gar nicht mehr braucht.

c. In gleicher Weise kann der Klägerin nicht entgegengehalten werden, dass sie mit ihrer illegalen Einreise einen Ausweisungsgrund im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 2 und § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG gesetzt hat. Auch dieses stellt lediglich im Regelfall einen Ausschlussgrund dar. Zudem kann hiervon bei Familiennachzug gemäß § 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG abgesehen werden. Angesichts des Umstandes, dass hier die illegale Einreise als solche der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegensteht, kann eine solche Rechtsfolge auch nicht daraus hergeleitet werden, dass eine illegale Einreise zugleich auch einen Ausweisungsgrund darstellt. Beide Vorschriften müssen synchronisiert werden und können nicht im Hinblick auf dasselbe Verhalten zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Beurteilung von Ausschlussgründen führen. Deshalb liegt ein besonderer Ausnahmefall vor, der es verbietet, speziell auf diesen Ausweisungsgrund die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis zu stützen. [...]

3. Zwar ist der Beklagten bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 S. 2 AufenthG ein Ermessen eingeräumt. Dieses ist jedoch hier auf die Entscheidung reduziert, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Im Rahmen der Ermessensausübung sind die für und gegen den Aufenthalt sprechenden Gesichtspunkte festzustellen und insbesondere im Hinblick auf ihr verfassungsrechtliches Gewicht gegeneinander abzuwägen. Da hier das Wohl des heranwachsenden Sohnes der Klägerin und der besondere Schutz der Familie ihren weiteren Aufenthalt verlangen, andererseits auch keine wirklich bedeutenden Umstände gegen ihren weiteren Verbleib sprechen, erweist sich allein die Entscheidung als richtig, das Aufenthaltsrecht zu gewähren. Besondere Belastungen für das öffentliche Wohl werden voraussichtlich von der Klägerin nicht ausgehen. Diese wird in der Lage sein, sich durch Arbeit selbst zu unterhalten und sozial abzusichern. Hierbei besteht zudem die Chance, dass auch ihre Kinder dann keiner weiteren Unterstützungsleistungen nach dem SGB II mehr bedürfen. Weitere Verstöße gegen die Rechtsordnung sind aktuell nicht zu erwarten, da diese bisher allein vor dem Hintergrund erfolgten, ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu sichern. Ansonsten verhielt sich die Klägerin offenbar rechtskonform. Zwar spricht gegen ihren weiteren Verbleib der sowohl spezial- wie generalpräventive Gesichtspunkt, dass Verstöße gegen das Ausländerrecht schon zur Vermeidung von Nachahmung nicht toleriert und Ausländer nicht darin bestärkt werden sollten, sich ihre ausländerrechtlichen Positionen im Wege der Selbsthilfe zu verschaffen. Derartige einwanderungspolitische Gesichtspunkte haben jedoch hier hinter das Kindeswohl und den Schutz der Familie zurückzutreten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.1.2006, 2 BvR 1935/05, NVwZ 2006, 682 f., Juris Rn. 17). [...]